Susanne Neuffer
Nicht alles, was gut schmeckt, ist bekömmlich, das wissen wir aus den Märchen. Auch die Zimtwecken in der folgenden Geschichte haben offensichtlich eine magische Wirkung.
Nicht verwirren lassen, wenn hier zweimal Enno auftaucht. Dass die beiden männlichen Protagonisten bei Renate und Susanne denselben Vornamen tragen, ist Zufall und hat NICHTS zu bedeuten!
Zimtwecken
Mirja mag keine Frühstücksbüfetts, sie will nicht dauernd aufstehen, durch den Raum gehen, allen Blicken ausgesetzt, auswählen, Sachen ohne Kleckern auf den Teller laden und zum Tisch balancieren. Sie mag kleine dumpfe Frühstückszimmer in hellhörigen Pensionen, in denen eine dralle grauhaarige Wirtin den Tisch vollständig gedeckt hat: zwei Brötchen, ein Ei, Marmelade, bleicher Scheibenkäse, ein Sträußchen Petersilie, das sich am Rand krümmt, ein paar Scheiben Jagdwurst, eine kleine bauchige Kanne Kaffee. Man muss auf keinen Knopf drücken, damit Kaffee in die Tasse fließt. Frühstückbüfetts sind ein Abbild des gesellschaftlichen Zustandes, bieten scheinbare Wahlfreiheit, Überfluss, extreme Individualisierung. Ist das schon mal gedacht worden?
Mirja sitzt Enno gegenüber im Frühstücksraum des Hotels. Hier sind sie, weil etwas mit dem kleinen Fischerhaus am Fjord nicht geklappt hat, falsches Datum, zu frühe Anreise, ein kleiner Umweg hat sich angeboten. Das Hotel ist auf nette Weise ambitioniert: ein bisschen alpin, wie man das hier im Norden gern hat, Ranken und anderes hölzerne Schnitzwerk rund ums Haus, bodenständige Deko, sanfte Musik im Hintergrund, die die Stimmung zurückhaltend manipuliert. Das Haus wird geführt von zwei Wirtinnen, Schwestern vielleicht. Man kann sie - beide rundlich, apfelähnlich strahlend in der Lebensmitte - schwer auseinanderhalten, aber die eine trägt immer eine bodenlange rotkarierte Schürze.
Enno lässt sich Zeit beim Frühstück. Das tut er zu Hause auch, aber da ist das Angebot nicht so vielfältig, und die Zeitspanne ist meist begrenzt. Er probiert sorgfältig alles durch, es sind immer drei bis vier Runden (ohne die Zwischengänge für Vergessenes). Die erste Runde ist eher hektisch, weil reizgesteuert, dann wird sorgfältig geplant. Mirja hat ohne großes Nachdenken einen Teller mit Fischkonserven und Essiggurken belegt, einen Becher Kaffee geholt und ist nun mit dem Frühstück durch.
Iss doch noch was, sagt Enno. Nachher kriegst du gleich wieder Hunger.
Das klingt ein bisschen nach früher Nachkriegszeit, aber die ist lange vorbei. Man muss sich nicht unbedingt sattessen muss, nur weil der Tisch sich biegt. Mirja kann keine Nahrung bunkern. Noch nicht. Das geben die Verhältnisse nicht her. Natürlich bekommt sie bald wieder Hunger, muss dann eine Stunde vor dem Abendessen schnell etwas Pappiges, Fettes in einem Bistro oder an der Tankstelle kaufen, während Enno beteuert, noch unglaublich satt vom Frühstücksbüfett zu sein.
Das Beobachten der anderen Gäste, die sich unsystematisch die Teller vollladen, bringt nicht viel. Da ist Enno schon planvoller. Dem anarchischen ersten Gang mit buntem Durcheinander auf dem Teller folgt üblicherweise ein konventionelles Arrangement von Brot, Brötchen, Ei und Wurst, manchmal ergänzt durch Bacon und die in roter Sauce schwimmenden Bohnen, der dritte Gang ist ein Käse-Marmelade-Experiment und die süße Schlussrunde ist offen für Müsli und Kuchen. Man weiß, dass der Kuchen von gestern ist und nun entsorgt wird, aber er steht auf einem hochbeinigen Tablett als eine ganz besondere morgendliche Gabe.
Enno ist bei der zweiten Runde und prüft die Qualität der Brötchen und des Brotes. Wieder kein Vollkorn, natürlich. Das können sie hier oben nicht, denkt er jetzt, denkt sie. Und findet es nett, dass er es nicht sagt. Das weiche Brot auf dem Büfett hat ein rosa Stoffkleid an, damit man es beim Abschneiden nicht berühren muss. Es sieht aus wie ein rehbrauner Pinscherrücken mit Röckchen.
Mirja sucht auf ihrem Smartphone, ob es etwas Schlaues zum Thema gibt. Das Frühstücksbüfett in der Literatur. In der Kulturwissenschaft. Nichts. Es werden ihr nur literarische Frühstücke in kleinen feinen Cafés angeboten, aber das bringt ja nichts. Figuren in Romanen und Filmen frühstücken selten, und wenn, treten sie sofort ein Drama los, bei dem ein heulendes Kind seine Cornflakes durch die Küche wirft oder einer sagt: Ich muss jetzt los. Es würde auch nichts bringen, Enno etwas Passendes vorzulesen, während das Rührei in seinem silbernen Sarg vor sich hin trocknet und die Kaffeemaschine nach Reinigung ächzt.
Mirja wird unruhig, Enno merkt es. Dreh doch noch eine Runde, sagt er.
Du auch, sagt sie, nimmt ihre Jacke, streicht ihm über die Schulter und geht aus dem fast leeren Frühstücksraum, als die rotkarierte Wirtin mit einer großen silbernen Platte voller Zimtwecken aus der Küche kommt. Mirja geht hinaus in den Flur, an einem Wäschewagen vorbei. Wäschewagen haben eine bedrohliche Aura, sie gehören in die Welt des Verbrechens, des Verbergens. Nicht hinschauen, man muss nicht wissen, was Bettwäsche und schmutzige Handtücher erzählen.
Jetzt steht sie vor dem Hotel. Es ist windig mit Sonne, Aufenthaltswetter sagen sie hier in ihrer Sprache dazu, die Jacke wird gerade so reichen.
Sie könnte zum See gehen, über den sich eine Nebelschlange zieht, aber dann geht sie in die entgegengesetzte Richtung, die Schotterstraße den Berg hinauf. Das Sonnenlicht flimmert verhalten zwischen den Bäumen durch. Licht, das durch Zweige flimmert, verspricht Spirituelles, Märchenhaftes, eine Erscheinung. Die Dinge haben heute offenbar ein großes Bedürfnis sich mitzuteilen.
Es ist gut, nur wenig im Magen zu haben, wenn der Weg bergauf führt.
Sie ist erschöpft, als sie zurückkommt. Enno sitzt noch auf seinem Platz, vor sich hat er eine Müslischüssel und einen Teller mit kleinen Zimtwecken.
Du hast Wolle im Haar, sagt er, als sie sich auf ihren Platz setzt. Und du riechst wie dieser Käse.
Er deutet auf das Stück Käserinde auf seinem Teller.
Schafskäse, sagt sie. Es waren so viele Schafe da oben.
Und überlegt, wie sich diese Geschichte erzählen lässt.
Iss doch noch was, sagt er und lässt Blaubeermarmelade von dem großen Löffel auf die Haferflocken tropfen.
Ich hab schon gefrühstückt, will Mirja sagen. Würde gern erzählen, von dem Holztisch vor der Hütte des Schäfers, dem Kanten Brot, dem stark riechenden Käse, dem heißen Kaffee in der Blechtasse. Bilder wie aus einer sehr alten Geschichte, einem Western oder einem Reiseprospekt. Aber dazu müsste sie einordnen können, was geschehen ist und was erzählbar ist. Da war der lange gewundene Weg, auf dem sie dann natürlich die Melodiereste von The long and winding Road summte, bis ihr die Luft ausging, der Weg ging nach Nordosten, wandelte sich von der Schotterstraße zum Holzweg. Sie hatte das Gefühl, schon Stunden gegangen zu sein ohne müde zu werden. Wie die Märchenfiguren, die auch immer ermüdungsfrei durch den Wald gingen, bis sie auf etwas trafen.
Dann kam die Lichtung, auf der Hunderte von Schafen herumlagen. Bei ihrem Erscheinen standen sie langsam auf. Der Hütehund schien ihr nichts ernsthaft Böses zuzutrauen.
An einer Holzhütte lehnte einer, dessen Gesicht sie sich jetzt schon nicht mehr vorstellen kann. Der Logik und dem Modus solcher Skripte folgend, dürften seine Locken und sein Bart rotblond gewesen sein.
Sie konnte seine Sprache plötzlich besser als unten im Hotel an der Rezeption, wo sie umständlich nach einem Zimmer und den Konditionen gefragt hatte und die Wirtin – aber welche? - sie nicht verstehen wollte und immer nur Enno ansah. Warum konnte sie jetzt ein Gespräch über Schafzucht, Tourismus und das Wetter führen, ohne ins Stocken zu geraten? Und schweigen konnte sie ebenso gut wie reden, bis sie von beidem müde war und neben dem Feuer in der Hütte einschlief. Sie hat noch gemerkt, wie der Schäfer eine Decke über sie warf, leicht und präzise. Diese Bewegung kann sie jetzt noch sehen: dass er die Decke nicht legte oder zog, sondern warf.
Du musst mal die Zimtwecken probieren, sagt Enno.
Mirja rettet sich in den Gedanken, das sie geträumt hat. Sie ist wahrscheinlich nicht nach draußen, sondern ins Hotelzimmer hoch gegangen und hat sich nochmal auf das Bett gelegt. Die späten Träume bis in den Vormittag sind die farbigsten, sie bleiben noch eine Weile im Kopf und im Körper. Aber der Geruch ist da, er ist stark, er geht nicht von der Käserinde aus, sondern von ihrem Pullover, ihrer Haut. Schaf, Filz, Feuer.
Ihr Blick fällt auf den Kalender neben der Kaffeemaschine. Ein hübsches Stück Deko, ein alter Umsteckkalender aus Blech oder Email, mit großen Zahlen. Als sie vom Frühstückstisch aufgestanden ist, war der 19. September. Jetzt steht da eine 20. Merkwürdig.
Enno sitzt völlig ruhig, unaufgeregt da, bei der 4. Runde, der süßen, kein bisschen ärgerlich. Er sieht jung aus, vor dem Frühstück ist ihr das nicht aufgefallen, jung und glatt und frisch wie ein Apfel. Sie steht vorsichtig auf und geht zu dem Wandspiegel, der den Raum größer machen soll. Ich seh ganz schön alt aus, denkt sie. Als hätte ich eine Nacht durchgemacht oder mehr. Das Grau in den Haaren, das kann ja wohl nicht echt sein, das ist sicher die Schafwolle, die in den Strähnen hängt. Wie eine Hexe seh ich aus.
Mirja dreht sich zu Enno um.
Neben ihm steht die Wirtin, die mit der Schürze. Sie hat Enno eine Hand auf die Schulter gelegt und lächelt wie eine Siegerin.
Enno sieht Mirja prüfend an.
Ich weiß Ihren Namen nicht mehr, sagt er. Aber Sie sollten sich wirklich dieses Frühstück nicht entgehen lassen.