Wir sind drei Autorinnen:

© Carmen Oberst
Marita Lamparter
schaut sich die Menschen genau an. Sie erzählt davon in Dorfgeschichten aus Westfalen und Stadtgeschichten aus Ottensen.

Renate Langgemach kann in ihren Romanen einen Hang zu in Schieflage geratenen Verhältnissen nicht verbergen.

Susanne Neuffer erzählt von Leuten, die sich und andere gern täuschen und meist unruhig unterwegs sind.

Jetzt könnten wir mit Goethe anfangen (Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis …) und bei Rilke landen (Du musst dein Leben ändern) – aber so leicht bzw. schwer wollen wir es uns
nicht machen. Wandel hatten wir uns beim letzten Treffen als Oberthema vorgenommen - größer ging es wohl nicht? - berauscht und hingerissen von uns selbst und unserem Publikum bei der Langen Nacht der Literatur am 2. September in der Bücherstube Langenhorn (Geschichten, Akkordeon, Wein).
Also: Was uns einfällt zu oder jenseits von Klimawandel, Wandelhallen, Gestalt- und Schlafwandlern findet sich hier in unserer 11. Blogausgabe.

In Sommer und Herbst waren wir in guter Schreiblaune: Marita Lamparter ist tief in ihrer Arbeit an einem Sachbuch versunken (Arbeitstitel: Schriftsteller als Angehörige
psychisch Kranker). Zusätzlich war sie im wilden Novemberwetter
mit Gudrun Hammer im Brechthaus in Svendborg. Beide haben sich der Würde des Ortes entsprechend verhalten, also geschrieben - und die Daheimgebliebenen mit skurrilen Reiseberichten versorgt.

Renate Langgemach hat Lyrik und eine Erzählung in der Literaturzeitschrift stadtgelichter veröffentlicht und ist dabei, ihren Roman über das Älterwerden (Arbeitstitel Septembermeer) kürzend und schärfend zu überarbeiten.

Bei einem Maro-Verlagsabend konnte Susanne Neuffer engagierte Büchermenschen in der Buchhandlung Patz in Bad Bevensen erleben und wird sich nie mehr über die literarische
Provinz beschweren. Ab Januar sind ihre Geschichten regelmäßig in der Zeitschrift Merkur zu lesen.

Nach einem Jahr, in dem unsere Hoffnungen auf sinnvolle Veränderungen da draußen schwer angeschlagen sind, wir aber längst nicht aufgeben, stellt Marita eine Kurzgeschichte vor, Renate einen kleinen Auszug aus dem Septembermeer und ein lyrisches Nachsinnen, Susanne ein Gedicht aus ihrem Band Kühlschränke des Nordens.

Das Gästezimmer bewohnt in dieser Ausgabe die Hamburger Autorin Cornelia Manikowsky.

 

Marita Lamparter
Heute kein Ausflug

Kati ist im Krankenhaus. In der psychiatrischen Abteilung. Sie geht den Flur auf und ab. Ganz nah an der Wand entlang. Das Krankenhaus wird umgebaut. Wegen der Umbauarbeiten
gibt es zur Zeit keinen Garten für die Patienten. Kati bleibt vor der verschlossenen Eingangstür stehen und kratzt an dem Schild für die Besucher. Auch wenn sie
von drinnen die Worte nicht lesen kann, weiß sie doch was darauf steht „Besuchszeiten von 16:00-18:00 Uhr.“ Darunter hat jemand mit Tesafilm einen Hinweiszettel gehängt:
„Heute kein Ausflug.“
Die Schwestern und Pfleger sitzen im Aufnahmezimmer, sie verteilen Medikamente. Monitore laufen und zeigen leere graue Zimmer. Manchmal bewegt sich eine Bettdecke.
Kati kratzt an den Buchstaben, sie sind fest mit der Glastür verklebt.
Ein Paketbote kommt in einer Uniform die Treppe hoch bis zur Glastür. Die Schwestern schauen kurz auf, eine drückt auf den Türsummer. Die Tür geht auf. Kati kann sich unsichtbar machen und schiebt sich hinter das große Paket des Boten.
Sie ist draußen.
Sie läuft bis zur Bushaltestelle und will auf den Bus warten. Schlechte Idee, nachher sitzt im Bus jemand vom Krankenhauspersonal. Dann muss sie wieder zurück. Vielleicht wollen sie mich operieren, weil ich noch so jung bin, meine Organe könnten teuer verkauft werden. Sie läuft weiter an die Elbe. Ihr Herz rast. Es ist kalt. Ende Februar und sie hat keinen Mantel an.

Auf dem Schiff hatte es damals angefangen. Die Segelfahrt auf dem Ijsselmeer, die Klassenreise.
Wenn sie wieder auf dieses Schiff gelänge, könnten die Stimmen sich beruhigen und sie in Ruhe lassen. Aber sie hat den Namen des Schiffes vergessen und sie hat alle Fotos von der Reise weggeworfen. Ein holländischer Name, von einer Tulpe oder einem Maler. Die Stimmen mochten es nicht, wenn sie Fotos ansah, weil es Agentenfotos waren.
Sie ist jetzt an der Elbe, Strandweg, Blankenese. Der Leuchtturm steht sicher mit seinen Streifen am Strand. Er funkt Kati eine Botschaft: Suche dein Schiff. Da schiebt sich ein riesiges Containerschiff in Richtung Hafen. Aus Rotterdam. Sie spürt es deutlich.
Und sie hört die Matrosen holländisch sprechen. Holländisch wie Hölle. Sie lacht. Ab in die Hölle. Hölle. Holle. Holland. Sie weiß jetzt was sie tun wird. Der Leuchtturm ruft: Ab ins Wasser. Hol das Land.

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Renate Langgemach
Vom Berzirk des Alters

Vom Bezirk des Alters habe ich gelesen. Ich mag das Wort nicht.
Das Land des Alters hätte Weite, auch wenn der eigene Bewegungsradius sich einschränkt, die Landschaft des Alters den Blick auf Berg und Tal, Feld und Wald, Fluss und
Meer, Auf und Ab.
Bezirk kreist ein. Zeigt Zäune. Runterdimmen, eingefahrene Wege, Kartenspiel, flüchtige Gespräche und Gesundheitssorge.
Umkreis, Gau, Zirkus geht durch meinen Kopf.
Die Frage, was es im Bezirk Neues zu erleben gibt, stellt sich selten. Eher die, wie lange man den Zutritt meiden kann. Wie das Altersgewand, der Alterstag außerhalb des Bezirks zu bewältigen wäre, wie die Ausgleichsmaßnahmen aussähen, die einen nicht auf den ersten Blick verraten. Man verharrt in der Vorruhezone, das zu Betretende weit.
Die schon im Bezirk sind, mahnen. Ich tue so, als würde mich das Boot umschiffen, das die Alten Tag für Tag einsammelt und dem Übergang näher bringt. Kaufe mir Kleider, die
zu kurz, zu bunt sind, ich will die unwürdige Greisin sein. Sagen wir die unwürdige Alte. Will in eine Freiheitszone. Eine neue Freiheit. Freiheit des Alters.
Unfreiheit und Freiheit meiner Mutter habe ich in den Knochen. Kriege. Nachkriege. Das böse Erwachen. Dann, als sie den Tod nicht mehr fürchtete und für ihn kein Tibet-, Galapagos-,
Semper-Opern-Opfer mehr brachte oder sonst welche Abenteuer mied, begann ihre Freiheit. Ihr pflichtvolles Leben hatte lange genug auf das erfüllte Leben gewartet. Ihr tut so, als wäre das lange Leben per se von besonderer Qualität. Es dient der Angst vor dem Tod, sagte sie. Weiter nichts.

(Auszug aus einem unveröffentlichten Roman über das Älterwerden. Arbeitstitel: Septembermeer)

Renate Langgemach
deine worte

deine worte
wie ein umhang

deine gedanken
wie honig in meinem tee

erinnerung ist ein hohler teufel
eine mutlose wunde
kein wort heilt
kein gedanke

manchmal fliegt etwas vorbei
und ich kann es nicht fassen
der spiegel bleibt leer
das haus still

hast immer schon gern in
anderen welten gewohnt

ich schreibe mit deinem stift
der mit dem messer gespitzt ist
trage deinen hut
dessen krempe in der sonne
brach
bade in deinem meer
dem waldmeer
bäume sind liebhaber der besonderen art

du hast mich oft vor dem sturz gewarnt
vor den steinen und pflanzen
nun bist du gestürzt
schnell
ohne wehr
dein herz
in schlingen gelegt

was du werden wolltest
wenn du nicht mehr bist
ein gingkobaum
eine eidechse
eine krähe
ein milan
der über dem dach kreist

federn wolltest du haben
flügel wie die vögel vor deinem fenster
die nun kein futter mehr bekommen

ich könnt dir ein essen machen
mit fisch und reis
kämst du
ich könnt dir ein bett bereiten
dir den koffer tragen
den du vor der welt geheim hieltst

zeit, sagst du, hätte ich schon

Susanne Neuffer
Verwandlung

Als die Verwandlung begann
das Licht im April kälter wurde
trotz steigender Hitze der Müll
zwischen den Sträuchern sich auffällig vermehrte
die Gespräche mit den Freunden
an manchen Stellen anhielten
(als wäre das Thema
in eine Gletscherspalte gefallen
und niemand wollte
mit hinuntergezogen werden)
als die Stimmen überall lauter wurden
ungehaltener
die Urteile schneller

Da

begannen auch wir
mit den
Veränderungen
vermieden die Feste der anderen
ignorierten die eigenen
suchten nach Schattenplätzen
wichen aus
fuhren auf Nebenstraßen und in langsameren Zügen
zu unbedeutenderen Zielen
und setzten uns wie Ausgerissene
in die Konzertsäle abblätternder Badeorte
wo die alten Musiklehrer
noch einmal aufspielten
noch einmal

Natürlich fragten wir uns
ob dies nun schon der Preis der Jahre sei
das sentimentale Bedürfnis
eine würdige Haltung einzunehmen
(zur „Welt von gestern“)
oder einfach
die angemessene Reaktion
auf das Unabwendbare
das wir ein Leben lang
zu bekämpfen
nun ja
behaupteten

Aus: Die Kühlschränke des Nordens, Hamburg 2021

 

Im Gästezimmer
Cornelia Manikowsky

 

 

sich beim Spielen berühren, gegeneinanderstoßen bei einer schnellen und beiläufigen Bewegung, unbeabsichtigt und zufällig, im Vorbeigehen, und doch aufblicken und hinterhersehen, der Berührung nachspüren, am Arm oder an der Schulter oder auch am Oberschenkel, am Knie, und dabei unmerklich langsamer werden, die Berührung festhalten wollen und dann plötzlich nicht mehr können, müde sein, keine Luft mehr bekommen oder stolpern und hinfallen und sich verletzen und Hilfe brauchen – sich fangen lassen, die Hände sind warm und fest und bestimmt und das Gefühl bleibt noch lange nach, auf den Schultern und auf den Oberarmen, es strahlt bis in den Oberkörper und bis in den Kopf und auch in die Beine, auch später noch, wenn wir längst auseinandergegangen sind, wenn ich zu Hause bin und Abendbrot esse und Zähne putze und ins Bett gehe, mit unsicheren Knien und flattrigen Fingern und diesem warmen Gefühl auf den Schultern und an den Armen und am Kopf

Cornelia Manikowsky, in Jahrbuch der Lyrik, Schöffling,
Frankfurt a.M. 2022

Unsere Blogausgabe steht dieses Mal unter dem Oberbegriff „Wandel/Veränderung“. Bezogen auf dein Schreiben: (Wie) hat sich dein Schreiben seit deinen Anfängen verändert?

Es ist konsequenter und radikaler geworden. Wobei das, was ich jetzt mache, bereits in den ganz frühen Texten angelegt war. Doch jetzt fällt es mir viel leichter, dem auch konsequent
nachzugehen.

In deinen Texten gibt es - so scheint es – die Schwerpunkte Kindheit und Natur. Sind die zwiespältigen Erinnerungen der Ausgangspunkt deines Schreibens? Und ist Natur das Rettende?

Vielleicht kann man es so sagen: Es geht mir darum, die Zeit anzuhalten (was natürlich nicht geht), innezuhalten, um zu verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Das führt schnell in die Kindheit, es führt auch zur Frage nach dem historischen Erbe, in das wir hineingeboren wurden – und eben auch in dieses Große, das man Natur (oder Schöpfung?) nennen kann. Das Rettende ist dann vermutlich das Schreiben selbst … naja

Wo verortest du dich im Literaturbetrieb? Es heißt, Autoren seien meist Einzelgänger. Trifft das auf dich zu?

Diese Verortung „im Außen“ gehört vermutlich zum Schreiben. Schon allein, weil man beim Schreiben meist allein ist. Es finden sich aber – und zum Glück! – ab und an Geistesverwandte!

Woran arbeitest du gerade? Mit welchen Hoffnungen und Erwartungen?

Ich arbeite meist an mehreren verschiedenen Projekten gleichzeitig. Im Moment und schon seit langem sind das zum einen sehr kurze Prosagedichte (siehe Beispiel), die dann zu größeren Zyklen verbunden werden und es ist ein größerer Prosatext der eine (und auch meine) Kindheit in den sechziger Jahren umkreist.

Und ganz konkret: Wie und wo arbeitest du? Nach Zeitplan am Schreibtisch oder….?

Am Schreibtisch, am Computer, immer mit Blick zum Fenster (hinter/neben dem Computer), oft sehr spät, zu viel, möglichst ungestört …

Cornelia Manikowsky, geboren 1961, schreibt für Erwachsene und Kinder. Zuletzt Kleine Dinge. Prosagedichte mit Drucken von Muriel Zoe, Hamburg 2021.
Und „und an die Liebe denke ich“, Kurzprosa, Edition Hammer + Veilchen, Niederstetten u. Hamburg. 2017
www.manikowsky.de

Termine:

Kunst und Poesie
Renate Langgemach liest Lyrik
zu den künstlerischen Arbeiten
von Heinz Jahn

21.1.2024
Annassalon
Einlass mit Kaffee und Kuchen um 16.30 Uhr
Beginn um 18 Uhr Bleickenallee 16, 22763 Hamburg

Literaturquickie
Gudrun Hammer liest aus
Paul oder: Besuche in der Bilderkammer

28.1.2024
um 16 Uhr im Tafelspitz
Himmelstraße 5a
Hamburg-Winterhude

Ihr Wahn ist mein Wahn
Marita Lamparter stellt ihr Manuskript über
Literaten als Angehörige psychisch Kranker vor.
Sie liest aus dem Kapitel über Peter Handke und seine Mutter.

9.2.2024
um 19 Uhr im Gasthaus Schulz
Heider Chaussee 12, 29451 Dannenberg/Groß Heide
Archiv der unveröffentlichten Texte
https://archiv-der-unveroeffentlichten-texte.de/

Frisches Blätterwerk
wir lesen in vertrauter Zusammensetzung aus neuen Texten

24.3.2024 um 15 Uhr
in der Kapelle 6
Ohlsdorfer Friedhof