Marita Lamparter
hat sich für einen Anfang entschieden:

Welches Schiff kommt heute vorbei?

Das Schleusenhäuschen. Es war ein kleines eingeschossiges Haus aus roten Backsteinen mit einem fast quadratischen Grundriss.
Darin saß der Schleusenmeister, der mit seinen Hebeln die großen Schleusentore in Bewegung setzen konnte.
Obwohl das Schleusenhäuschen klein war, höchstens drei Menschen konnten sich gleichzeitig darin aufhalten, strahlte es dennoch Wichtigkeit und Bedeutung aus, denn es stand oberhalb der Schleuse, es konnte vom Wasser schon von weitem gesehen werden und bot den Überblick über Schleuse und Brücke. Die Schiffe kamen voll beladen aus dem Dortmunder Hafen, dem Ruhrgebiet, beladen mit Kohle. Für diese Transporte war der Kanal ja vor über 100 Jahren gebaut worden, vom Ruhrgebiet über den Kanal und die Ems bis nach Papenburg und bis zur Nordsee.
Binnenschiffer, das ist ein wichtiger Beruf, das lernen die Kinder im Kanaldorf in der Schule. Oft stehen sie auf der Brücke, verfolgen das Schleusen und gucken von oben auf die Schiffe.

Schleusen war mit Aufregung verbunden, denn die Schiffe mussten passgenau in die Schleusenkammer einfahren. Wände und Tore durften nicht beschädigt werden, denn das bedeutete Stilllegung. Nicht jeder Kapitän beherrschte das Manöver. Das Rammen der Schleusenwände machte dann einen Höllenlärm, noch in der Siedlung war es zu hören. Aber der Schleusenmeister, respektvoll Schleusenjupp genannt, kannte seine Pappenheimer, er verließ dann sein Häuschen und dirigierte ein Schiff. Oft fluchte er dabei.
Die Schiffer aber, sie hatten immer gute Laune und winkten dem Schleusenmeister und den Kindern auf der Brücke fröhlich zu. Auf dem Schiff stand der Kapitän am Steuer und meist zwei Matrosen liefen an Bord hin und her. Die Matrosen waren für die Reinigung an Bord zuständig. Mit Eimern, die an einem langen Seil befestigt waren, holten sie Wasser aus dem Kanal und schrubbten das Deck. Das war wegen der schmutzigen Kohle sehr oft nötig.

Sobald das Schiff in der Schleuse auf Höhe des Ufers war, sprangen die Schifferfrau und die Kinder leichtfüßig von Bord, um im Konsum vor der Brücke einzukaufen. Staunend wie Kinder in einem Dritte-Welt-Land liefen die Dorfkinder nebenher und beobachteten stumm die Einkäufe. Nicht zu fassen: Die Schiffer kauften die gleichen Lebensmittel wie Leute an Land, z.B. Rama und Kaba. Frau Brinkkötter freute sich immer über diese Kunden, denn sie konnte jetzt große Mengen verkaufen und sie stellte viele Fragen. Menschen, die immer unterwegs sind, brauchen ständig neuen Proviant und haben viel zu erzählen: Von Dortmund, von Holland, von Unfällen im Kanal. Wieder einmal war jemand mit dem Fahrrad in den Kanal gesaust und die Kanal-Taucher mussten das Fahrrad rausholen, damit es nicht die nahe große Schleuse in Bevergern beschädigen würde. Aber sonst war nichts Schlimmes passiert. Frau Brinkkötter war sehr zufrieden, sie wusste wie immer als erste im Dorf Bescheid. Das war sie ihrer Stellung allerdings auch schuldig.

Von der Schleusenbrücke in Rodde konnte man auf die Eisen-bahnbrücke sehen. Die Züge fuhren die Strecke Hengelo- Rheine-Osnabrück. Manchmal erwischte man den Moment: Oben fuhr die Eisenbahn und darunter machte ein Schiff seinen Weg nach Norden.

Im Sommer sprangen die mutigsten Jungs und die jungen Männer von der Eisenbahnbrücke in den Kanal. Das war natür-lich strengstens verboten. Ebenso das Baden im Kanal. Sowie-so waren es immer die gleichen Halbstarken, die sich mit ge-fährlichen Sprüngen aufspielen mussten.

Es war schön im Sommer.
Das Tuckern eines Schiffes war zu hören und schon bald würden Wellen ans Ufer schlagen.

Die Kinder freuten sich, wenn auf dem Schiff Leben und Bewe-gung war. Wenn die Frau des Schiffers Wäsche aufhängte, ein Hund aufgeregt bellte, ein Kinderwagen zu sehen war.
Sie riefen sich die oft gleichen Beobachtungen zu:

Dahinten stehen drei Fahrräder, sogar ein Moped.
Und ein hellblaues Auto. Ein VW-Käfer.
Ich habe diese Woche schon drei Autos gesehen.
Die haben keine Gardinen, das müssen Holländer sein.

Es waren meist Begebenheiten, die sie auch im Dorf hätten s-hen können, aber auf einem Schiff mit Kohleladung war es etwas Außergewöhnliches, eine Sensation und sie rannten dann den Uferweg entlang, wollten eine ganz kleine Weile das Tempo mit dem Schiff halten, riefen und lachten.
Immer, wirklich jedes Mal, winkten die Schiffer den Kindern am Ufer oder auf der Brücke zu.
Aber kein Dorfkind wollte später einmal Schiffer werden, das war undenkbar. Schiffer stammten aus Schifferfamilien, das war ja nur logisch.
Sie erzählten sich aber Dinge wie: Die Kinder von Schifferfamilien müssen aufs Internat, wegen der Schule.
Das hatte einen erschreckenden Unterton. Internat, Besserungsanstalt, Verbannung, Sibirien. Unvorstellbar.
Ich fahr auch lieber Trecker. Wir bekommen jetzt den neuesten von Claas, einen hellgrünen.
Ich muss ja den Hof übernehmen.

Die strahlende Sonne brannte im Sommer auf den Kanal, so dass das Wasser wie ein silbernes Band zwischen den Bäumen glitzerte.
Die Weiden neben dem Weg waren scharf gezeichnet, dahinter der Saum aus Gräsern.
Ein neues Schiff tauchte auf. Die Erika aus Dortmund.
Der Kapitän, seine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm und die Matrosen. Sie alle winken.