Marita Lamparter
Unterwegs in Ottensen

Clarissa geht in Ottensen auf den Markt. Sie möchte Blumen für ihr Sommerfest einkaufen, dabei trifft sie zufällig ihren Freund Jens und ihre Freundin Ingrid. An diesem Tag denkt sie immer wieder an ihre alte Liebe Peter, den sie seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hat und den sie auch zu ihrem Fest eingeladen hat.
Clarissa, Festvorbereitungen, eine alte Liebesgeschichte – es dauert nicht allzu lang, bis der Groschen fällt. Es ist ein Spiel mit Motiven und Konstellationen: Die Clarissa, die in einem Hamburger Stadtteil durch die Straßen geht und sich in ihren Gedanken verliert, ist an Virginia Woolf nur angelehnt. Wir finden sie in einer anderen Zeit, mit einem entliehenen Vornamen, eigenen Kleidern und Erinnerungen und einem scheinbar zerstreuten Blick auf die Gegenwart.
In diesem Textabschnitt beginnt Clarissa, die lange als Anwältin gearbeitet hat und jetzt dabei ist, die Kanzlei teilweise zu übergeben, ihren Gang durch den Stadtteil.

Jetzt, im Juni

Jetzt war es Juni und Bürgermeister Scholz machte Urlaub. Geschäftsinhaber standen in ihren Schaufenstern und dekorierten für die Altonale ihre Läden mit Kunstwerken. Ein wunderbares Aquarell im Schaufenster der Apotheke fiel Clarissa gleich auf, aber sie unterdrückte den Kaufimpuls, sie war manchmal so unbesonnen.
Sie würde heute Abend ihr Haus schmücken und erleuchten, das Geschirr aufbauen, ihr Fest geben, ihr berühmtes Gartenfest. Auf dem Spritzenplatz hörte sie das geschäftige Summen der Marktleute und das Lachen des Gemüsehändlers, da sah sie ihren alten Freund Jens. Er war gerade dabei, ein neues gelbes Fahrrad anzuschließen.
Jetzt stand Jens vor ihr. Moin, ich grüße dich, sagte er übertrieben höflich und etwas amüsiert, sie kannten sich schon seit Studientagen. Wohin des Weges?
Ich gehe immer wieder gern in Ottensen einkaufen, das ist viel lebendiger als in der Waitzstraße, meinte Clarissa. Außerdem wurde sie nur hier auf dem Markt noch junge Frau genannt.
Den Gedanken behielt sie aber für sich. Jens würde sie auslachen.
Oder geht's um alte Zeiten? fragte Jens. Nostalgie, Clarissa? Sie standen vor dem Café Prinz, weiße Holzstühle mit blauen Kissen. Hübsch, dachte Clarissa, erinnert mich an die Provence.
Ungewöhnlich um diese Zeit, es sind zwei schöne Plätze frei, wunderte sich Clarissa. Jetzt nicht mehr, sagte Jens mit seinem fordernden Lachen. Herr Prinz begrüßte sie im Vorübergehen: Auch mal wieder da, wollt ihr was bestellen oder nur quatschen?
Heute bediente der junge Mann mit den blauen Haaren und brachte den Americano. Der Kaffee ist nicht heiß genug, dachte Clarissa. Werde ich immer mäkeliger? Fängt so das Alter an?
Jens hatte sein I-Phone zur Seite gelegt. Wie immer, Elke müsse schon wieder zum Arzt, deshalb seien sie hier unterwegs, du kennst doch sicher auch Dr. Weide. Andere Leute kämen nach Ottensen zum Einkaufen und zum Kaffeetrinken auf dem Bürgersteig. Irgendwann werde man das übrigens schrecklich finden.
Was?
Na, das Kaffeetrinken auf den Bürgersteigen. Vielleicht gibt es dann keine Autos mehr in der Stadt und überall wird Kaffee getrunken.
Er freue sich schon auf den Abend in ihrem Garten, auf ihre berühmte Gartenparty. Es werde aber wahrscheinlich etwas später werden, er müsse noch zu einem Empfang in die Hafencity, da brumme es wirklich. Nicht so wie hier in diesem alternativen Museum. Er schaute sie bedeutend an, wie ein wichtiger Nachrichtensprecher aus dem ZDF, der Name fiel Clarissa nicht ein.
Sie fühlte sich immer ein bisschen mickrig neben Jens, fast schulmädchenhaft anhänglich, aber sie fand ihn, auf seine Art, ganz in Ordnung.
Der Juni hatte jedes Blatt an den Bäumen vor der Apotheke hervorgelockt. Die jungen Mütter saßen auf den Bänken und schauten ihren spielenden Kindern zu. Die Kanzlerin flog gerade zu einem Sondergipfel. Der Stadtteil selber mit seinen engen Straßen schien die Luft zu erhitzen, Clarissa fühlte sich gehoben von einer Welle der Lebensfreude.
Clarissa musste an Peter denken, den sie auch eingeladen hatte, per Mail. Sie und Peter, sie wären bestimmt seit Jahrzehnten getrennt, wenn sie je richtig zusammen gekommen wären. Eigentlich sollten sie ein Paar gewesen sein. Wenn das damals nicht passiert wäre.
Sie hatte ihm nie geschrieben, auch nicht die kleinste Mail bis jetzt. Aber manchmal und ganz plötzlich, wenn sie gar nicht damit rechnete, konnte sie denken, wenn er jetzt bei ihr wäre, was würde er wohl sagen.
Inzwischen dachte sie ohne Bitterkeit an ihn, das war für sie wie eine Belohnung. Jetzt an diesem schönen Sommertag überfielen sie diese Gedanken. Ob er sich in Shanghai wohlgefühlt hatte, ob er ihr davon berichten würde. Er interessierte sich damals nur für den Zustand der Welt, für Popmusik und für die französischen Philosophen und immer wieder für die Europäische Union. Und dann landete er ausgerechnet in Fernost. Wie sie sich gestritten hatten und er ständig an ihr herum kritisiert hatte.
Peter hatte es im Sommer 1986 zunächst abgelehnt, sie an der Schlei zu besuchen, immer bringst du mich dazu, dir hinterher zu reisen. Ich habe einfach keine Lust, dir hinterher zu dackeln.
Für sie war es ein romantisches Angebot gewesen. Er hatte einen Sportwagen und liebte es schnell herum zu düsen. Auf einmal war es zum Hinterherdackeln verkommen und sie hatte jede Lust verloren, ihn zu sehen. Aber abends am Wasser dachte sie doch, wie schön es wäre, wenn Peters Sportwagen um die Ecke biegen würde.
Ingrids Examensarbeit musste endlich fertig werden. Deshalb fuhren Ingrid und sie ins Haus Radeby an der Schlei und besuchten ein Lyrikseminar, ein Wochenendseminar der Uni Hamburg. Clarissa hatte ja auch zunächst Literatur studiert, Mrs Dalloway war ihr wichtigstes Buch gewesen, ihr Schatz, ihre Bibel; nicht umsonst nannte man sie seit der Zeit Clarissa, eigentlich hieß sie Cornelia. Ingrid und sie und auch die anderen in ihrer Gruppe sahen Examensarbeiten als eine kollektive Aufgabe an. Bert Brecht und die Frauen war das Thema. Der Professor erzählte mit Blick auf die Ostsee, dass er im letzten Jahr Brechts Haus in Svendborg, drüben auf Fünen, besucht habe. Er habe sogar ins Haus gedurft und Brechts Schreibtisch sehen können. Ingrid fing sofort Feuer und legte sich spontan fest, Brecht und die Frauen im Exil, darüber wollte sie schreiben. Vielleicht wäre dann ja sogar eine Reise nach Ostberlin drin.
Clarissa rief damals in einer Pause Peter an, in der Tenne war ein Telefon angebracht. Komm doch, es ist schön hier und es sind noch Zimmer frei. Wir bleiben noch länger, das Seminar geht morgen zu Ende, aber wir wollen noch hier bleiben. Wir können morgens über die Brechtgedichte diskutieren und nachmittags baden. Clarissa konnte sich nicht mehr erinnern, ob er sich damals gefreut hatte. Als er endlich anreiste, verschlechterte sich das Wetter und es regnete tagelang in Strömen. Die Stimmung war entzaubert. Peter war nur schlechter Laune gewesen.
Die Examensarbeit war nach fast einem Jahr fertig, Ingrid bekam eine Eins dafür, Clarissa machte daraus eine Arbeit für die Zwischenprüfung, beide galten nun in der Szene als Pionierinnen des Themas. Es war so nötig gewesen, endlich über die Frauen an der Seite Bert Brechts zu schreiben und deren Anteil am großen Werk. Es gab schon entsprechende Biografien, aber Ingrid bezog sich ganz besonders auf die Zeit in Svendborg. Die Wut und den Elan, den sie damals hatten, sie wollten es den Professoren zeigen, heute langweilten besonders Clarissa die Genderthemen in der TAZ und im Hochschulbereich unendlich. Manchmal wurde Ingrid noch für einen Vortrag angefragt, aber irgendwie sei das jetzt kalter Kaffee, so hatte es wohl mal eine junge Frau am Telefon zu Ingrid gesagt, es war ihr rausgerutscht, entschuldigte Ingrid sie, aber es war gesagt.
Nach den Tagen an der Schlei reisten sie getrennt wieder nach Hamburg. War nicht sogar Peter vorzeitig abgereist? Clarissa erinnerte sich nicht mehr daran. Dann gab es noch die berühmte Szene vor der Gruppe, im Wintersemester darauf wechselte sie dann endgültig zu den Juristen, Peter verachtete sie dafür und ging nach Marburg.
Dann, diese Szene im Schauspielhaus, damals war sie noch mit Ralf zusammen. Er hatte ihr zum Geburtstag ein Theaterabo geschenkt. Zusammen mit den Röders hatten sie was gesehen? Den Sommernachtstraum? Ja, Sommernachtstraum von Marthaler oder so, und auf der Bühne wurde Holstenbier getrunken. Diese ganz komische Aufführung. War das noch zu Baumbauers Zeiten? Macht jetzt auch kein Mensch mehr. Theaterauftritte in alten Unterhosen und Kästen mit Holsten. Sie waren bester Laune gewesen, Röders waren gerade in ihre Nähe in das Reihenhaus gezogen, sie waren müde und angestrengt vom Renovieren, versprachen mit ihrer Aufbruchsstimmung einen lustigen Abend.
Da kam in der Pause einer von Beate Röders Kollegen zu ihnen an den Stehtisch, begrüßte alle herzlich und hob sein Glas Sekt. Wir bleiben beim Holsten, hatte Röder prustend gesagt.
Dieser Kollege legte auf einmal los: Also, dieser Peter Wildes, kennt den einer von euch? Das ist ja ein richtiger Lebemann, wir haben ihn in Shanghai besucht, er betreut dort unsere Geschäfte für die Krankenhausgesellschaft. Das war meine aufregendste Reise. Wir waren sogar bei ihm und seiner chinesischen Frau eingeladen. Das ist vielleicht ein Typ, ohne ihn hätten wir keine so guten Verträge. Und der hat in Hamburg studiert.
Clarissa erinnerte, wie sie diese Nachricht in Unruhe brachte, sie war entsetzt gewesen, konnte sich kaum noch auf das Theaterstück konzentrieren.
Peter geheiratet, in Shanghai, eine schöne Chinesin. Das konnte sie nicht vergessen. Warum eigentlich nicht? Er fand Clarissa - damals kalt und herzlos - und dann heiratete er eine Chinesin.
Er sei jetzt sehr zufrieden, versicherten später seine Nachrichten aus Shanghai. Er beriet Firmen, die sich in China niederlassen wollten, in Sachen kultureller Differenz und schaute die Verträge auf mögliche kulturelle Missverständnisse durch. Er war wohl sehr gefragt und ersparte seinen Geschäftspartnern viele mühevolle Gespräche.
Es machte sie immer noch wütend. Nur wütend. Ausgerechnet jetzt musste Clarissa daran denken, dass sie als Kind manchmal gedacht hatte, dass sie gar nicht das Kind ihrer Eltern sei. Sie hatte wirklich gedacht: Mein richtiger Vater ist ein Kaiser. Der Kaiser von China. Peter hatte eine Chinesin geheiratet.
Wie im Traum, dachte Clarissa. Mein kaiserlicher Vater musste mich außer Landes bringen wegen eines Komplotts. Mein Leben war in Gefahr. Außerdem sollte ich die Sitten von einfachen Leuten kennenlernen, damit ich später eine gute Königin für das Volk sein würde. Weil alles so überstürzt vor sich ging, musste der kaiserliche Vater die erstbeste Familie nehmen. Und er glaubte, in dem kleinen Dorf wäre seine Tochter am sichersten. Clarissa schüttelte sich, sie hatte das ein- oder zweimal als Kind gedacht, ihr Vater sehr selten zwar, konnte plötzlich ganz ungerecht werden. In ihrer Therapie war ihr diese Geschichte nie eingefallen, sie hatte es nie besprochen.
Jens telefonierte schon wieder und schaute sie von der Seite an.
Was ist los? Das Café, die ganze Straße wurde jetzt aufgeschreckt von einem gewaltigen Krach. Ein Unfall bei der Motte, rief eine junge Frau, der Kran von der Baustelle, sie war ganz aufgeregt, dann hörten sie auch schon Polizei und Feuerwehr.
Die Straßen werden abgesperrt, rief jemand.