Gudrun Hammer
Sperlingslust

Ob sie den Mann gesehen habe, der so schnell zum Ausgang lief. Diese Frage stellte ich Verena nicht.
Vor unzähligen und noch mehr Wegen hatte ich sie gefragt, ob sie die Maus sah. „Wo denn?“ Zusammen standen wir vor dem Grab und warteten darauf, dass sie sich wieder zeigte. Sie tat uns den Gefallen, flitzte am Stein entlang und verschwand auf Nimmerwiedersehen im Efeu. Da waren wir noch im Hellen unterwegs. Viel blauer Himmel zwischen den Baumkronen.
Mittlerweile suchten wir das Grab unserer Freundin im alten Teil des Friedhofs, im kühlen Schattenreich. Hohe Eichen, Weiden und Kiefern, dunkles, dichtes Blätterdach über großen Steinen, Engeln und Stelen. Wir hatten uns verloren. Schon zum zweiten Mal in anderthalb Stunden. „Gehst du da lang, dann guck ich da.“
Inzwischen warf ich nur noch flüchtige Blicke auf die in Stein gemeißelten Namen, hielt vor allem Ausschau nach Blumengebinden und Kränzen auf frisch geharkter Erde. Auf zwei oder drei Gräbern lagen braun-modrige Rosen und graue Lilien neben Schleifen mit Abschiedsworten. Dort hatte die Ewigkeit bestimmt nicht erst vor zwei Tagen begonnen. Und so irrte ich zunehmend mutlos umher, begegnete selten Lebenden und hatte ganz allmählich genug von all den Toten. Und ganz allmählich wurde ich auch der einen großen Frage nach dem Warum überdrüssig. Verena ging es ähnlich. Mehrere Male hatten wir uns in den letzten Tagen getroffen und versucht, Worte zu finden für unser Entsetzen. Katharina war, so schrieb es ihre Tochter in einer Mail, an die Gleise gegangen.
Eher aus Erschöpfung denn aus Interesse harrte ich kurz aus vor einer Marmorschönheit, die sich mit sehnsuchtsvollem Blick und entblößter Brust über einen Grabstein beugte, und nahm mir vor, die Suche bald zu beenden. Hinter mir hörte ich Schritte.
Als ich mich umdrehte, war der Mann an mir vorübergegangen. Etwas an ihm kam mir bekannt vor. In der Hand hielt er eine weiße Rose. Als sei ihm gerade etwas eingefallen, blieb er plötzlich stehen und sah nach links, auf drei von Urnen gekrönte Stelen. Dann kehrte er um, ging wenige Schritte auf ein unscheinbares Grab zu und legte die Rose auf die Grabplatte. Danach stellte er sich mit wie zum Gebet gefalteten Händen auf den Weg, betrachtete noch einmal die Inschrift des Steins, dabei bewegten sich seine Lippen, und blickte dann zu Boden.
Ich näherte mich ihm, so langsam ich nur konnte.
In dem Moment, in dem er in meine Richtung gegangen war, ohne mich zu beachten, erkannte ich ihn. Und jetzt hatte ich Gewissheit. Sein Profil, seine Haltung, sein Gesichtsausdruck waren mir nur allzu vertraut, bestätigten, was ich von Anfang an gespürt hatte. Nein, ich erschrak nicht. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, vielleicht so etwas wie: Ist es also soweit. Ich hatte schließlich seit jeher gewusst, dass dieser Augenblick kommt. Es war auch keine Frage, wie ich mich verhalten sollte. Ruhig ging ich auf ihn zu.
Plötzlich bückte er sich und hob mit der linken Hand einen kleinen Ast auf. Gleichzeitig strich er sich mit der anderen eine Strähne aus der Stirn. Fast hätte ich aufgelacht. Hätte es überhaupt noch eines Beweises bedürft, dann hatte er ihn mir mit dieser Geste gegeben. So flüchtig, so bar jeder Eitelkeit hatte er sich die Haare oft aus dem Gesicht gestrichen. Es ging ihm nicht um das gute Aussehen, sie störten ihn nur.
Ich war noch etwa zehn Schritte von ihm entfernt, da richtete er seinen Blick auf mich. Er sah mir direkt in die Augen. Er erkannte mich. Vielleicht lächelte ich, vielleicht auch nicht, auf jeden Fall war mir danach zumute.
Im Nachhinein sehe ich das, was dann geschah, wie in Zeitlupe. Als müsste er sich zwingen, den Blick von mir zu lösen, wandte er sich ruckartig von mir ab und lief los. Hätte er, und sei es noch so kurz, zwischen dem Blickwechsel und dem Aufbruch noch einmal auf das Grab geschaut, ich hätte es bemerkt.
Ich hatte Mühe ihm zu folgen, so schnell lief er. Bestimmt hörte er meine Schritte. Als er in den Hauptweg einbog, warf er den Ast in ein Gebüsch. Das Friedhofstor war nicht mehr weit. Seinen Namen rief ich nicht. Ich war mir sicher, ich würde ihn einholen. Aus den wenigen Schritten, die uns trennten, waren mittlerweile mindestens zwanzig geworden. Aber selbst diese Entfernung beunruhigte mich nicht. Er konnte sich ja schlecht in Luft auflösen. Notfalls würde ich ihm bis zur Bushaltestelle oder zur Bahnstation folgen. Und falls er in ein Auto einsteigen würde, konnte ich mir immer noch das Kennzeichen merken.
Hinter dem Friedhofstor wandte er sich nach rechts und verschwand aus meinem Blickfeld. Weil ich jetzt rannte, war auch ich rasch auf der anderen Seite der hohen Hecke zwischen dem Friedhof und der Straße.
Neben der Haltestelle startete gerade ein Bus. Außer Atem blieb ich stehen und sah im nächsten Moment, dass er einen Radfahrer überholte. Nein, der Mann auf dem Rad blickte sich nicht um. Trotzdem oder gerade deswegen wusste ich, dass er vor mir geflohen war. Genauso gewiss war: Ich finde ihn.
Aber zuerst einmal machte ich mich auf die Suche nach Verena.