Marita Lamparter
Sehnsucht
Clarissa sehnte sich nach Dänemark, wie sie im Brecht Haus vom Schreibtisch Brechts auf den stürmischen Sund schaute, so weit weg von der Welt, keine Zeitungen, kein Fernsehen und die dänischen Flaggen flatterten als schmale Streifen über den Stegen. Sie hatte sich damals nach Peter gesehnt und ihre Examensarbeit über Bertolt Brecht geschrieben, damals, als es so nötig war, endlich über die Frauen an seiner Seite zu schreiben und ihren Anteil am Werk des großen Dichters. Die Wut und den Elan den sie damals hatte, sie wollten es den Professoren zeigen, heute langweilten sie die Genderthemen in den Zeitungen und im Hochschulbereich unendlich. Sie waren wichtig, aber das Klein-Klein war einfach nur langweilig. Clarissa fühlte sich ein wenig schuldig bei diesen Gedanken. Sie sehnte sich nach Dänemark der Stille und Friedlichkeit wegen. Der Ruhe unterm Strohdach.
Eigentlich sollte ich dieses Jahr mein Gartenfest ausfallen lassen, dachte sie. Es ist zu früh, das Trauerjahr ist noch nicht vorbei. Mutters Tod hatte sie viel mehr mitgenommen, als sie sich hatte jemals vorstellen können. Und das Testament erst. Sie sehnte sich nach dem dänischen Himmel, der so klar war und sie ein ungerechtes Testament vergessen machen könnte. Obwohl sie hatte ja Geld nicht bitter nötig, sie hatte es auch so geschafft, und genau so hatten es auch ihre drei Geschwister ihr vorgehalten. Warum sie sich denn aufrege? Sie sei weggegangen und damit habe sie keine Ansprüche mehr. Clarissa fühlte sich nur weggestoßen. Warum verstehen mich meine eigenen Schwestern und mein Bruder nicht? Aber so war es wohl. Die dänischen weiß-roten Bänder, die Ruhe und Sicherheit vor der Familie boten. Soweit würden sie ihr nicht folgen, also war sie es doch, die Kontakt abgebrochen hatte. Hatten die Geschwister doch recht?
→ Peter hatte es damals zunächst abgelehnt, sie in Svendborg zu besuchen, immer bringst du mich dazu, dir hinterher zu reisen. Ich habe einfach keine Lust, dir hinterher zu dackeln.
Hinterher zu dackeln. Für sie war es ein romantisches Angebot gewesen. Er hatte einen Sportwagen und liebte es doch schnell herum zu düsen. Jetzt war es zu einem Hinterherdackeln verkommen und sie hatte jede Lust verloren, ihn zu sehen. Aber am Sund dachte sie doch, wie schön es wäre, wenn jetzt Peters Sportwagen um die Ecke biegen würde. Sie war ganz allein im Brecht-Hus. Ihre Examensarbeit musste endlich fertig werden. Deshalb war sie hier. Bert Brecht und die Frauen. Ob Ruth Berlau hier mit Brecht geschlafen hat? Sie war ja im Hotel Maris untergekommen. Oder war es die Steffin gewesen? Und Helene Weigel hatte unterm Dach ihr Zimmer. Für so viele Leute ganz schön eng hier. Aber es geht bei ihrem Thema um Inspiration und künstlerische Ausbeutung und wo sind die Grenzen? Sie rief damals Peter an, vom Hotel Maris aus. Damals war das alles komplizierter ohne Internet und Handy. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, ob er sich gefreut hatte. Als er endlich anreiste, verschlechterte sich das Wetter und es regnete tagelang in Strömen. Die Stimmung war entzaubert. Peter hatte schlechte Laune. Peters schreckliche Mutter. Aber war sie das wirklich? Komisch, dass sie jetzt an Peters Mutter denken musste. Diese große Familie, Peter hatte fünf Geschwister, das war ganz ungewöhnlich. Er gehörte zu den ersten drei, den Großen, die selber und fast alleine klar kommen mussten. So nannte es seine Mutter: Die müssen selber klar kommen und sich helfen, ich habe schließlich noch die Kleinen. Das hinterließ eine Leerstelle, denn natürlich sahen sie das ein oder mussten es einsehen. Aber Peter behielt seinen lebenslangen Groll gegen seine Mutter, er fühlte sich als ihr ewiger großer Junge missbraucht und entthront. Denn die Großen waren für den Gefühlshaushalt der Mutter verantwortlich. Zu seiner Examensfeier kamen auch seine Mutter und seine drei Schwestern. Die Studentengruppe, alle waren von der Mutter und den Schwestern beeindruckt, von ihrer Fröhlichkeit und ihrer energischen Ausstrahlung. Der Auftritt passte so gar nicht zu den Erzählungen von Peter und sie nahm es Peter übel, dass er so schlecht über seine Mutter sprach und so wenig Mitgefühl zeigen konnte. Viel später erst verstand sie ihn, als sie erlebte wie kalt seine Mutter bei der Beerdigung der ältesten Tochter war. Aber da war es zu spät für das Verständnis Peter gegenüber.