© Frank Isheim

Gudrun Hammer
Keine Einkehr

Die Kellnerin seufzt und lächelt. Als warte sie seit Stunden auf Bettina. Kommen Sie hinter den Tresen. Hier die Stufen runter.
Holztäfelung, gedämpftes Tageslicht durch Butzenscheiben, zwei lange Tafeln, eine unbenutzt. Die andere ein Trümmerfeld. Zusammengedrückte Bierdosen, Kippen rund um den Aschenbecher, ein umgekippter Kerzenleuchter, Bierflecken neben halb vollen Gläsern, leere Cognacschwenker.
Das sind die Herren.
Sie lächelt noch einmal, dieses Mal, als bitte sie Bettina um Verzeihung, und flieht nach oben.
Zwei oder drei stehen mühsam auf. Halten sich am Stuhl fest, am Tisch, die Decke rutscht, eine Dose fällt scheppernd zu Boden.
Das is ja suuuper. Dass Sie da sind.
Bettina sieht blau. Überall dunkelblaue T-Shirts. Vorn schlicht, nur mit weißem Strich, hochkant. Hinten mit Spruch. Einer sitzt mit dem Rücken zu ihr. Sie liest. Sie liest noch einmal. Auch sie will fliehen. Weiße Buchstaben auf marineblauem Grund.
Was hat hinten einen Streifen, darunter ein waagerechter Strich, und vorne einen … .
Das schaff ich nicht, denkt sie. Nicht in meinem Stadtteil. Wenn mich jemand sieht. Das kann ich niemandem erklären. Nicht mal mir selbst.
Einer kommt auf sie zu. Ein Meter neunzig, in die Länge gezogenes Kindergesicht, sonnengebräunt, schlaksig. Beugt sich zu ihr runter, die Lider promilleschwer, starrt sie erwartungsvoll an.
Ich will das ehrliche St. Pauli sehen.
Er holt tief Luft, schwankt. Sein Adamsapfel hüpft, darunter unschuldiges Blau mit weißem Strich.
Um sie herum Aufbruch. Die meisten sind schon an ihr und dem Jüngling vorbei, lärmend, stolpernd. Er steckt die Hände in die Jeanstaschen, zieht die Schultern hoch, hält sie fest mit fragendem Blick.
Wissen Sie, ich bin oft in Brasilien. Beruflich. Da hab ich mal eine Puffmutter kennengelernt. Unglaublich nett. Und ehrlich. Einfach nur ehrlich. Das gibt es doch hier gar nicht mehr. Solche Leute. Das ist hier doch alles ganz schlimm. Geht doch immer nur um Karriere. Und ums Geld. Ein klasse Gespräch war das. Ehrlich, richtig ehrlich, die Frau.
Und, fragt Bettina, warum erzählen Sie mir das?
Mit so einer Wirtin möchte ich sprechen. So eine kennen Sie doch bestimmt. Mal wieder ein richtig ehrliches Gespräch.
In einem Bordell?
Ja.
Tut mir leid. Eine Wirtschafterin kenne ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass die sich mit uns unterhalten wollen.
Bei uns sind alle berechnend. Jeder denkt nur an sich. Geld. Geld. Geld. Geht um nichts anderes. Ich wander aus. Nach Brasilien. Die sind ganz anders. Die leben noch. Da geht’s mir gut. Hier können mich mal alle. Aber Sie zeigen uns jetzt St. Pauli. Das find ich super.
Er hakt sich bei ihr ein. Sie entzieht ihm den Arm.
An der Straßenecke haben sie die anderen eingeholt.
Zehn Freunde aus Mainz und Umgebung feiern Junggesellenabschied. Kennen sich aus der Schulzeit, die meisten verheiratet, Kinder sind auch schon da, und nun heiratet noch einer. Mario, Bankkaufmann, Vater, Ehemann, Organisator der Feierei, hat von der Kurverwaltung gelesen und sich wirklich riesig gefreut. Das ist doch klasse, wir möchten geführt werden, nach St. Pauli wollten wir sowieso. Kann sein, sagt er am Telefon, da fällt mal ein kleiner dummer Witz, den überhören Sie einfach, sind aber eigentlich alle richtig nett.
Die Schlachterbörse als Treffpunkt, die schätzen die gute Küche, denkt Bettina, Mario klingt sympathisch, warum also nicht. Ich mach die Tour. Das war vor zwei Tagen.
Wenn ihr euch zusammenreißt (die, denkt Bettina, haben das Sie nicht verdient), wenn ihr nicht in der Gegend herumgrölt und euch nicht daneben benehmt, dann führ ich euch. Wenn das nicht klappt, könnt ihr alleine losziehen. Und das Bierglas nimmst du nicht weiter mit, das stellst du hier hin, nein, nicht mitten auf den Weg, neben den Blumenkübel. Wir sind hier im Karolinenviertel, auch Karoviertel genannt, rechts war früher der Schlachthof, heute wird da nur noch Wurst gemacht, geschlachtet wird woanders, der Stadtteil hat seinen Namen vom ehemaligen Kraftwerk Karoline.
Einer bleibt stehen, hört zu, die anderen schlendern weiter, so viel wollen sie gar nicht wissen.
An der nächsten Ecke links, schreit sie dem lärmendem Haufen hinterher. In der Augustenpassage bleiben alle stehen, von Hagenbeck hat schließlich fast jeder schon mal gehört. Bettina erzählt von hungrigen Affen in Nachbarküchen, Bürgertöchtern, die das erotische Abenteuer mit Fremden suchten, den Jimmy tanzenden Feuerländern.
Waren Sie mal Prostituierte?
Stille.
Einer geht auf den Neugierigen zu. Hast du nicht alle Tassen im Schrank. Wie kommst du denn darauf?
Das hat Mario gesagt.
Quatsch, empört sich der Angeklagte, hab ich nie gesagt.
So, mein Lieber. Bettina erbarmt sich. Du hast eine klare Frage gestellt, darauf eine klare Antwort. War ich nie. Nicht jede, die auf St. Pauli lebt, geht anschaffen. Und selbst wenn. Hinter dem Tordurchgang seht ihr gleich ein Eckhaus mit den Wappen von Hamburg und von Altona.
Auf dem Pferdemarkt wirft sich der Bräutigam zu Boden, kreischt und strampelt mit den Beinen, als Bettina ihn fragt, ob er schon mal verheiratet war. Was auch immer an der Frage ihn die Hysterie treibt, er kann es nicht in Worte fassen. Der Anfall dauert. Mainz bleibt Mainz, denkt Bettina und wartet auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Seine Freunde heben ihn auf, klopfen ihm auf den Rücken, allmählich kehrt Ruhe in den zuckenden Körper ein.
In der Wohlwillstraße zieht Bettina den Kopf ein, es ist der kürzeste Weg zur Großen Freiheit, aber hier wohnt sie und will doch jetzt bitte von keinem erkannt werden. Trödelt nicht so rum, wir wollen uns noch eine ganze Menge angucken, sagt sie und kann doch nicht verhindern, dass die pubertierenden Bankkaufleute und Familienväter abrupt stehen bleiben. Auf der anderen Seite der Scheibe sehen sie, was sie in ihre kühnsten Träumen nicht zu erhoffen wagten.
An einem langen Holztisch sitzen etwa zwanzig rosa Frauen. T-Shirts in Rosa, kurze Röckchen in Rosa, Stulpen in Rosa, zu Schleifchen gebundene Halstücher in Rosa, über den Haaren wackeln rosa Bunny-Ohren keck in die Höhe. Die Jungens haben gefunden, was sie verdienen, auch Junggesellinnen lieben den Kiez. Roccos Seiteneingang zwischen den großen Fenstern, hinter denen das Paradies lockt, sonst verschlossen, ist heute wegen der Hitze einen Spalt geöffnet, nur eine Kordel verweigert Eindringlingen den Zutritt, doch die soll kein Hindernis sein, damit zueinander kommt, was zueinander gehört. Das Band ist schnell entfernt. Bettina mahnt zum Weitergehen, so ginge es nicht. Sie wendet sich ab, hört schrille Frauenstimmen vor schmalzig schmachtendem Tenor, guckt wieder hin und glaubt an eine Sinnestäuschung. Auf einem Tisch stampft der Bräutigam mit den Füßen, seine Kumpane stehen klatschend und johlend um ihn herum, sein Becken kreist, er wirft den Kopf in den Nacken, die Anfeuerungen und das Klatschen seiner Freunde treiben ihn in die Ekstase, er lüftet das T-Shirt in Überlänge, ein knallroter Stringtanga kommt zum Vorschein, das Gemächt wackelt, der Stolz bringt ihn schier um den Verstand. Jetzt weiß Bettina, warum der Verlobte als einziger als Fußballer reist, anstelle von Jeans runden Ringelkniestrümpfe und Spikes seine Erscheinung nach unten hin ab. Er will der Welt zeigen, was er hat, auf St. Pauli, da kann man das, da ist das geradezu Verpflichtung. Die Mädels sind außer sich, der Programmpunkt ist nicht zu toppen, das können sie ihren Enkeln erzählen.
Spielverderber gibt es immer, ein Kellner, gebaut wie ein Schrank und von den spitzen Schreien der Rosafarbenen herbeigelockt, räumt auf. Er zieht den Enthemmten unsanft vom Tisch, schleift ihn am T-Shirt-Kragen durch die Tür, droht allen mit den Bullen, schließt unsanft die Tür hinter den Hausfriedensbrechern und lässt zum Abschluss hinter der Scheibe filmreif die Faust emporschnellen. Drinnen üben die entfesselten Barbies die Kunst des Kusshändchenwerfens.
Hoffentlich war’s das, denkt Bettina, schlimmer kann’s nicht kommen. Wann sind wir denn auf der Reeperbahn, fragt einer, damit ist nicht der Durst erschöpft, aber der nach Wissen jedweder Art schon, ersterem, einigt sie sich mit Mario, wird während der Tour nicht nachgegeben, das bringt nur Unheil. Das sich auf andere Weise nähert. Bettinas Warnung vor gewaltbereiten Geschlechtsgenossen ist längst vergessen, in der Großen Freiheit rempelt ein Entgegenkommender, der Berührte gibt nicht nach, bleibt stehen, anstatt die Füße in die Hand zu nehmen, steht Auge in Auge vor seinem Herausforderer, der eine Hand in die Jeanstasche steckt, da greifen sich drei Blaue den Kumpel, ziehen ihn zur nächsten Ecke und stauchen ihn zusammen. Die Gruppe verfügt noch über Restverstand, folgert Bettina und freut sich in aller Bescheidenheit, dass kein Blut fließt.
In den Erotikladen gehen wir nicht, entscheidet Mario. Der entpuppt sich als halb nüchterne Führungspersönlichkeit mit Verantwortungsbewusstsein, findet Bettina und stellt wieder mal dankbar fest, dass Glück manchmal die Abwesenheit von Unglück ist, so geht wenigstens keiner zwischen den Regalen verloren.
Das Risiko Davidwache trägt sie gemeinsam mit Mario. Das Wunder geschieht, die Männer reißen sich zusammen, verwandeln sich in kreuzbrave Bürger, die einen Beamten mit Fragen bestürmen und wie gebannt auf die Einsatzzentrale im Nebenraum gucken.
Bettina sieht auf die Uhr, vereinbart sind zwei Stunden, die sind rum, so pünktlich war sie noch nie. Vor der Herbertstraße, für diesen Haufen Pflichtprogramm, verabschiedet sie sich. Mario kassiert von jedem einzeln, gibt ihr die Scheine und einen Tipp, einige danken lauthals. Wofür, denkt sie und glaubt eine Erleichterung zu spüren, die nicht nur sie befällt, auch die Jungens sind froh. Die Spielverderberin ist gleich weg, der Spaß kann losgehn.

Der Text ist entnommen aus St. Pauli, Streifzüge auf dem Kiez, Edition Nautilus, Hamburg 2006