Renate Langgemach
Jerry kurzes Kichern

Wer geht schon gern auf die Reeperbahn außer den Unermüdlichen aus Essen oder Bottrop. An schwankenden Gestalten vorbei, Pisspfützen, spuckenden Youngsters und Gyrosgeruch, an Einladungen zum Sex unter Neongegröl und anzüglichen Blicken. Weggucken heißt es. Bloß nicht hingucken. Sonst könnte man angesprochen werden oder im schlimmsten Fall in eine Schlägerei verwickelt.

Weil Rita schon lange darauf bestand, mache ich heute eine Ausnahme. Sie sagt, die Reeperbahn ist der geschützteste Ort in ganz Hamburg, soviel Bullen wie da findest du nirgends, die Nutten machen noch den Mund auf, wenn was passiert und wenn ehrlich zugehauen werden muss, kommt einer, der es für dich tut. Hier brauchst du nicht schön sein. Hier läuft das Leben. Hier ist einer für den anderen da und 'n bisschen Dreck gehört dazu.

Heute also wollen wir auf die Reeperbahn. Sie Uralteingesessene in deren Nebengassen, ich Neuzugang aus granitgestyltem Wohnhof mit Blick auf die Lichter vom Kiez, die Kirche von St. Pauli, geschlossenem Zaun und künstlicher Palme.

Um zum Treffpunkt zu kommen, fahre ich mit der U-Bahn. Rita sagt, das gehört dazu. Ausgespuckt werden wie alles Volk, was da ankommt. Hochgepresst mit den Gierigen, den Junkies und Bürgern wie du und ich, leicht angetrunken von Hemmungen befreit und eins im Geruch geiler Ärsche.
Ich steige aus. Riesenradlichter von hinten, ansonsten dunkel. Am Treppenende stolpere ich fast, ein Zahnloser mit Plastiktüte hält mich, "Deern, nu fall ma nich gleich", strömt abgestandene Luft und grinst mich an.
Eine Dame in Schwarz mit Schal fängt die Zögerlichen, die der U-Bahn-Schlund auswirft, so gegen zwanzig Uhr. Es sind eine Gruppe aus Wiesbaden, die eine fundierte Einführung in das Rotlichtviertel wünscht, ein Paar aus dem norddeutschen Raum und ich. Rita fehlt noch. Deshalb stehe ich hier nun alleine und das habe ich nicht gewollt.

"Ich bin Marlene von der 'Kurverwaltung'", sagt die Dame unterm Bahnhofsvordach. "Ich duze Sie einfach für die zwei Stunden, die uns auf Hamburgs sündiger Meile verbinden …", kommt einer die Treppe hoch, Aktenkoffer, gelber Rolli, kariertes Jackett in passender Tonqualität, Hose wie erster Frühling und ebenso die Brille. "Da hab' ich ja Glück", keucht er in die Worte der Kurschattendame, "ich heiße Gerd. Meine Freunde nennen mich Jerry." Er kichert kurz, windet sich, bisschen klein für sein Alter, "angenehm", sagt Frau Marlene, "nennen Sie mich gerne 'Shade'. Wir starten", fügt sie mit bedauerndem Blick auf mich hinzu, "wer bis jetzt nicht gekommen ist, hat selber Schuld."
"Einen Moment", sagt Jerry, drückt mir seinen Koffer in die Hand, der ist weich wie Gummi, fügt sich allen Körperformen an und hat einen Umhängegurt, den Jerry aus seiner Hosentasche zerrt, "ich möchte nämlich Aufnahmen machen", verkündet er, "Tonaufnahmen, wenn nichts dagegen steht. Die Kamera", sagt er, "schafft Distanz. Ich experimentiere mit der Nähe, dem 'Mitten im Geschehen', wenn es recht ist". Kurzes Kichern.
Er macht seinen Koffer auf, darin die Ausrüstung mit Minidisk und Mikro, das er sich ans Revers klemmt, zieht den Diagonalgurt darüber, kurzes Kichern, "es kann losgehen, Mrs. Shade", und Marlene nimmt die Sache wieder in die Hand.

Wegen 'Wiesbaden' halten wir uns lange beim Reepschlagen, Napoleon in Altona, den Folgen von Brandwurf und Verwüstung auf, die zu dem Budenzauber geführt haben, der früher an jedem Wochenende die halbe Hansestadt angelockt hat.
Am Millerntor-Turm vorbei, der nicht wirklich Anklang findet, der Trauer über die verlorene Bowlingbahn, Veränderung im Sichtbereich des Café Keese und den negativen Einflüssen der Brüder Osmani - Jerry streckt seine Brust mit Mikro in Marlenes Gesicht - gebe ich beim Erotik-Kaufhaus endgültig auf, nach Rita zu gucken und folge Jerry nach drinnen.
Der macht sich mit Wonne daran, mir Fragen zu stellen über Sinn und Zweck der Ausstellungsstücke, verwertet mich im Gespräch über Falleri-Fallera, wären doch zu schön als Kerzenhalter - kurzes Kichern - Kaffeekanne oder Nachttischlampe.
Zwischen Edelstein und Keuschheitsgürtel kommen wir in die Abteilung, die ihn am meisten reizt. Kautschuk & Co. Mit Guckloch und ohne, Gummilippen, Schacht und Ausbuchtung. Jerry kurzes Kichern diktiert zwei Preise auf Minidisk – und sichtet ein kauflustiges Paar. Er strebt zum Gespräch mit Vorphantasie, das wäre es doch, die beiden flüstern in ihrer Bedrängnis, kommt aus der Hintertür eine Blonde in Leder, Stiefel bis zum Schenkel und aus Werbezwecken Korsage mit Kurzpeitsche, gibt Jerry einen Schlag auf den Oberarm, "lass meine Kunden in Ruhe", sagt sie, "sonst kannst du mir die Absätze lutschen und dir was mit dem Stöckchen holen, bis der Kleine groß ist! V e r s c h w i n d e !" Jerry sucht Haltung wie ein Karatekämpfer, das dient dem Mikro, wenn nicht die Führung gewesen wäre und ich am Mitteltisch bei den Büchern - 'Wie finde ich meine Herrin?' - wäre er wahrscheinlich mitgegangen hinter das Türchen.

Frau Marlene erwartet uns mit Blick auf die Uhr. Der Türsteher, mit dem sie geplaudert hatte, zischt durch die Zähne "der Grünfink nervt", und laut sagt er zu Jerry: "Pass schön auf dich auf, Fips!".

Weil sich im Disput mit der Blonden seine Kabel verhaspelt haben, kriegt Jerry in der Condomeria nicht gleich mit, was der Lümmeltüten-Freak erzählt: "Mutter und Tochter kommen rein. Sagt die Kleine, Mama kauf' uns doch 'n paar Billy Boys. Mama hat keine Ahnung, was die Kleine will. Hab ich 'n büschen nachgeholfen. Jetzt liegen die Billies an den Betten von beiden und jede wüsste gern, wie viele schon verbraucht sind! Alle", sagt er dann noch, "die hier was kaufen, kriegen 'n Gummi dazu!"

"Weitergehen bitte", mahnt Frau Marlene und bei ihren Ausführungen kommt mir das erste Mal in den Sinn, wieviel Gummi sich mit Sex verbindet, dass Jeff Koons wahrscheinlich deswegen eine Quietscheente in Übermaß auf dem Spielbudenplatz anbringen wollte - und dass hier wirklich eine Bude neben der anderen war mit Riesen, Zwergen und Hagenbeks Seehunden, "das Panoptikum", sagt Mrs. Shade, "ist das einzige, was ein festes Haus bekommen hat zwischen den Amüsierbetrieben und einschlägigen Etablissements."

Vor der Davidwache bittet sie mit Blick auf Jerry um Zurückhaltung - uns anderen ist nichts vorzuwerfen. Der Wachraum ist kleiner als im Fernsehen, in die Zellen dürfen wir nicht, das St. Pauli Spezialhotel ist belegt, "winzig sind sie", sagt Marlene, "mit Pritsche wie anno dazumal und ohne Klo. Wer muss, muss klingeln. Wer das vergisst oder es aus anderen Gründen so will, lässt eine Lache unter der Tür rauslaufen."

Jerry tänzelt. Ihn zieht es zur Damenriege in der Davidstraße. Fleischtrikots im Anorak, sauber unter Kontrolle der Wachmannschaft, schließen von hinten auf wie Taxis und stehen so weit auseinander, dass sie während der Arbeitsszeit keinen Kontakt miteinander haben. "Berufsrisiken sind neben Geschlechtskrankheiten und Rheuma …", jetzt ein Gespräch zwischen Freier und Nutte, zuckt es in Jerrys Brust, und er strebt voran. "Halt", befiehlt da Frau Marlene. "Wenn du eine vom Strich beim Balzen störst, schlägt sie zu. Nachher kannst du ansprechen wen du willst, dann hast du alles im Originalton für zwanzig bis sechzig Dollar!"

Kurzer Flash über das Gesicht von Jerry, während wir die Herbertstraße passieren. Natürlich wird behauptet, der Bretterzaun davor diene dem Schutz anliegender Bewohner und deren Gattinnen, in Wirklichkeit haben ihn die Nazibonzen angebracht, damit sie ungesehen dahinter verschwinden konnten. "Wenn eine Frau reingeht", sagt Marlene, "fliegen Exkremente und faule Eier, ist nun mal deren Beruf und das sollte man respektieren."
Jerry macht Anstalten, hinter dem Zaun zu verschwinden, und zu dem Zeitpunkt, glaube ich, hat Mrs. Shade endgültig entschieden, uns aus dem Verkehr zu ziehen in die Hinterstraßen zur 'Kogge', in der man die Betten durchs Schaufenster sieht, zum Erotic Art Museum, das mich mehr antörnt als die Dildos im Supermarkt von vorhin, und sie schlägt vor, statt auf der Großen Freiheit unsere Runde in der 'Ritze' zu beenden. Dort hätte sie eine Überraschung parat - gedacht hat sie bestimmt, da kann Jerry seine Brust mit Mikro vor die Fernseher halten oder vor die Rampe des Wirts.

Also die 'Ritze'.
Hinterhof neben Eros-Center. Marlene hievt den dunkelroten Filzvorhang, damit er uns seinen Schlitz frei gibt. Wir betreten die Höhle. Atmosphäre klar, rau, freundlich. Muskelmänner, ruhig gestellt, Dong-Dong an den Wänden, Schmeling, Sugar Ray und Udo Lindenberg.
Bevor wir uns setzen, holt Marlene einen Schlüssel. Sie führt uns treppab, Jerry vorweg, damit er alles mitkriegt - denn wer weiß schon, was uns da unten erwartet.

Ein Boxring!! Mit Birne und Sandsack, Million Dollar Baby, die weißen Stricke, in denen der Mensch noch als Ganzes zu haben ist, sich das Leben pur abzeichnet wie sonst nur bei der Geburt, wo die Sache des untergehenden Subjekts verhandelt wird, das ums Überleben kämpft, das einstecken muss und ebenso austeilen, wo am Tod vorbei die Wunder der Rettung geschehen und einer mit einem Schlag sein Leben sozusagen 'meistert'.

"Halt mal", sagt Jerry, reicht mir seinen Koffer inclusiv Schnur, während Wiesbaden an den Handtüchern schnuppert. Das Kicken der Boxbirne ertönt. Mickey Mouse im Fäusterausch, DONGDONGDONG, Jerrys Arme rudern wie ein Mühlrad, seine Beine sind aus der Achse geschlagen, "weg da, Junge", sagt einer von hinten, der nicht zu uns gehört. "Lass den Quatsch! Du gehst nicht auf die Kugel zu, sondern du wartest, bis sie kommt!! So!" Jerry hört nicht, macht sich am Sandsack zu schaffen, bewegt ihn keinen Millimeter, "hey, Spiddel", und es mischt sich etwas in die Luft, als wäre es der Indianer im Kuckucksnest, hört alles, sieht alles, sagt nichts und hebt Jerry am Kragen hoch, damit der endlich einhält.
Marlene atmet durch. Es ist Zeit, durchzugreifen. "The show is over, meine Herren", sagt sie, macht das Licht aus, und ich habe nicht mal auf die Lorbeerkränze geguckt und keinen Tritt in den Ring gewagt.

Wir trotten zurück ins Lokal. Erst jetzt merke ich, dass auf drei Bildschirmen der gleiche Boxkampf läuft. Deswegen sind die Jungs so still und befriedetes Land.
Am Tisch hinten in der Ecke, den Marlene für die Gruppe kriegt, sitzt schon der Indianer, streckt Jerry seine Arme entgegen, "Junge, setz dich zu Rocky", sagt er. In meinen Ohren klingt das eher nach Drohung als nach Freundschaft und bloß nicht hingucken, fällt mir ein.
Der Indianer wirkt abgewrackt, Lederjacke, gelbes Hemd, die Hände durchtätowiert, Jerry kippt auf ihn zu wie auf den Punchingball, "bist wohl Journalist, was", fragt der Indianer und zeigt auf das Kabel. Marlene lauert aus dem Augenwinkel.
"Weißt du überhaupt, wer ich bin?!", setzt er seine Rede fort. "Rockmusiker! Komm grade von 'ner Tournee. Japan. Hongkong. Hab Geld wie Heu! Durchgefickt bin ich auch. Interessiert mich alles nicht mehr, der Kram! Bloß Boxen. Das hält mich fit!"
"Da musst du doch total glücklich sein!", piept Jerry, kurzes Kichern.
"Klar doch. Bist du manchmal im 'Lehmitz', Kleiner?!"
"Ja. Da arbeitet mein Freund!"
"Hab' da Lokalverbot gekriegt! Hab' in 'ne Ecke gepinkelt."
"Hättest doch auch aufs Klo gehen können", sagt Jerry, immer ein Ohr an dem Dialog, den sein Mikro einfängt, "ging nicht", sagt der Indianer und fixiert Jerrys Jackett.
"Los. Gib mir mal deine Jacke!"

Jerry klemmt das Mikro vom Revers auf den Pullover, der Indianer erhebt sich, seine Hose ist fast so grün wie die von Jerry, nur am Oberschenkel zerschlissen, er zieht sich die Jacke über, passt zu seiner Hose, sitzt stramm und die Ärmel legen Einschnitte am Handgelenk frei, stolziert am Tisch lang wie vorm Spiegel: "Hab' mal einen umgebracht, wie Bubi seine Frau, ließ sich leider nicht rückgängig machen, und als ich raus bin aus'm Knast, hat mir ein Freund 'ne Gitarre gegeben. Dann ging alles ganz schnell, dem Bassisten von 'ner Band vorgespielt, der hat mich engagiert, nicht ständig, aber so ab und zu - und das", er deutet auf seine eingebeulte Nase und die Streifen am Arm, "hab' ich mir in New York geholt, bin mit meiner Tochter Schlitten gefahren, vor ein paar Tagen, in der Nähe von dem Christo-Geflatter haben wir 'ne Landung gemacht …", plötzlich dreht sich der Indianer zu Jerry hin und sagt:
"Was willst du haben für die Jacke?"
Jerry stockt. Kichert. Läuft rot an.
"Hampel nicht rum!", sagt der Indianer.
"Zehntausend." sagt Jerry. Keine Nebengeräusche und steht stramm.

Es wird still an unseren Tisch. Eine Glocke aus Stille über dem Ring. Als würde ausgezählt.
Der Indianer streicht am Kragen der Jacke entlang, guckt über die Knöpfe, das Grün, "gut", sagt er dann, "sollst du haben. Aber vorher gehst du auf die Knie."
"Das tu ich nicht", sagt Jerry, immer noch aufrecht, zwei Zentimeter gewachsen und ohne Kichern.
"Übernimm dich nicht, Fliegengewicht!"
"Ich geh nicht auf die Knie", sagt Jerry. "Vor keinem Menschen der Welt und für kein Geld!"
Der Indianer pumpt sich voll hinter der Tischkante, seine Füße tänzeln, Jerry reckt seine Brust, greift zu seiner Brille - der Indianer nutzt die Sekunde unsicherer Deckung, seine Faust landet auf dem Mikro, dem Herz, Jerry taumelt, verschwindet unterm Tisch, ich weiche zurück, die anderen werden bleich. Luft holen, Jerry, schwitzt Marlene aus allen Poren, Jerry tut es, hebt sich in Zeitlupe, der Indianer bereitet den Schlag auf den Kopf vor, Nasenbein ins Hirn, Augen ins Dickicht, Blut, wer will hier kein Blut sehen. Da naht der Ringrichter mit Geschirrtuch, zwei geschulte Barkeeper in seinem Rücken. "Es reicht", sagt er zum Indianer, "schraub den Pegel runter! Meine Gäste fühlen sich gestört."

Der Indianer schrumpft zusammen, etwas ist bei ihm angekommen. "Gut", brüllt er, "gut", haut mit der flachen Hand auf den Tisch, dass der Whisky in den Gläsern kreist, "du kriegst deinen Fummel! Dafür machst du deinem sauberen Freund klar, dass ich wieder ins 'Lehmitz' will. Ab sofort!"

Stimmungen schwanken am Rand der Seile, laufen hin und her zwischen Schmerz und Jubel, es ist unberechenbar, dieses gewaltige Experiment der Nähe, die Barkeeper bleiben am Ring, Jerry ordnet seinen Koffer, der Indianer nimmt keine Notiz mehr von uns, lässt die Jacke unter sich liegen wie gebrauchte Pampers, ich schiebe mich aus Tisch und Bank, Jerry tut das gleiche, muss sich aber noch nach der Jacke bücken und dabei seine Deckung nicht vergessen, von der anderen Seite kommen Marlene und die Gruppe.

"Das haben wir doch fein hingekriegt!", sagt sie, als wir draußen sind und lächelt.
Normalerweise wäre sie nun gegangen. Diesmal bietet sie an: "Wer möchte, den bringe ich zur U-Bahn."
Das sind Jerry und ich.

Rita übrigens hat den Abend versäumt, weil sie mit ihrer Tochter im Clinch liegt.

Der Text ist entnommen aus: St. Pauli, Streifzüge auf dem Kiez, Edition Nautilus, Hamburg 2006