Heute kein Ausflug
Kati ist im Krankenhaus. In der psychiatrischen Abteilung. Sie geht den Flur auf und ab. Ganz nah an der Wand entlang. Das Krankenhaus wird umgebaut. Wegen der Umbauarbeiten gibt es zur Zeit keinen Garten für die Patienten. Kati bleibt vor der verschlossenen Eingangstür stehen und kratzt an dem Schild für die Besucher. Auch wenn sie von drinnen die Worte nicht lesen kann, weiß sie doch was darauf steht „Besuchszeiten von 16:00-18:00 Uhr.“ Darunter hat jemand mit Tesafilm einen Hinweiszettel gehängt: „Heute kein Ausflug.“
Die Schwestern und Pfleger sitzen im Aufnahmezimmer, sie verteilen Medikamente. Monitore laufen und zeigen leere graue Zimmer. Manchmal bewegt sich eine Bettdecke. Kati kratzt an den Buchstaben, sie sind fest mit der Glastür verklebt.
Ein Paketbote kommt in einer Uniform die Treppe hoch bis zur Glastür. Die Schwestern schauen kurz auf, eine drückt auf den Türsummer. Die Tür geht auf. Kati kann sich unsichtbar machen und schiebt sich hinter das große Paket des Boten.
Sie ist draußen.
Sie läuft bis zur Bushaltestelle und will auf den Bus warten. Schlechte Idee, nachher sitzt im Bus jemand vom Krankenhauspersonal. Und dann muss sie wieder zurück. Vielleicht wollen sie mich operieren, weil ich noch so jung bin, meine Organe könnten teuer verkauft werden. Sie läuft weiter an die Elbe. Ihr Herz rast. Es ist kalt. Ende Februar und sie hat keinen Mantel an.
Auf dem Schiff hatte es damals angefangen. Die Segelfahrt auf dem Ijsselmeer, die Klassenreise.
Wenn sie wieder auf dieses Schiff gelänge, könnten die Stimmen sich beruhigen und sie in Ruhe lassen. Aber sie hat den Namen des Schiffes vergessen und sie hat alle Fotos von der Reise weggeworfen. Ein holländischer Name, von einer Tulpe oder einem Maler. Die Stimmen mochten es nicht, wenn sie Fotos ansah, weil es Agentenfotos waren.
Sie ist jetzt an der Elbe, Strandweg, Blankenese. Der Leuchtturm steht sicher mit seinen Streifen am Strand. Er funkt Kati eine Botschaft: Suche dein Schiff. Da schiebt sich ein riesiges Containerschiff in Richtung Hafen. Aus Rotterdam. Sie spürt es deutlich. Und sie hört die Matrosen holländisch sprechen. Holländisch wie Hölle. Sie lacht. Ab in die Hölle. Hölle. Holle. Holland. Sie weiß jetzt was sie tun wird. Der Leuchtturm ruft: Ab ins Wasser. Hol das Land.
Kati fährt mit dem Bus zum Bahnhof Altona. Dann an der Max-Brauer-Allee bleibt sie vor dem Gymnasium stehen und sieht eine versteckte kleine Mauer, ein Denkmal. Sie liest: „Den nicht Heimgekehrten“. Die hellen Ziegel bröckeln an den Rändern, zu beiden Seiten stehen große Rhododendronbüsche. Sie suchen Platz und über den Blättern recken sich die leeren Blütenstängel zur Straße hinüber. Zwei kranke Bäume stehen vor der kleinen Mauer. Sind es Buchen, denkt Kati. Buchen sollst du suchen. Tatsächlich sind es kranke Kastanien, die Blätter liegen gekräuselt und dunkel gesprenkelt am Boden. Den nicht Heimgekehrten, wiederholt Kati. Das ist wieder eine Nachricht für mich. Rosafarbene fleißige Lieschen haben es geschafft bis in den Winter zu blühen. In Katis Kopf beginnt es zu rauschen. Sie hält sich den Kopf fest. Warum laufen die Gedanken einfach los? Die Gedanken lösen sich auf, stand in der Broschüre, die ihr der
Psychiater gegeben hat. Aber die Gedanken lösen sich nicht auf, sie vermehren sich, sie strudeln wie ein kaltes Wasser in ihrem Kopf.
Zwei junge Männer in schwarzen Nylonjacken gehen vorüber, sie reden deutsch miteinander. Kati hört, wie sie über Geld sprechen, sie wollen von jemand Geld holen. Kati bekommt Angst und geht weiter. Der Bahnhof ist eine Baustelle und verwirrt sie, Versorgungsleitungen hängen wie dicke Aale von der Decke. Kati möchte sich an ihnen hochziehen. Sie beginnt laut zu lachen, weil sie an den Fischmarkt denken muss. Sie läuft schneller, sie fällt auf. Ein Ehepaar dreht sich nach ihr um. Normal bleiben, ermahnt sie sich. Normal bleiben ist das wichtigste. Nicht auffallen. Sie geht zum Busbahnhof weiter. Ein Bus rast auf sie zu, sie springt zur Seite. Wahre Werte statt großer Worte steht auf dem Bus geschrieben. Überall Worte, wichtige Nachrichten: Mit Jasper nach Helgoland.
Sie muss sich ausruhen und setzt sich zu dem Penner auf die Bank. Welchen Bus soll sie nehmen? Mit dem blauen Metrobus 1, der 20er wartet auch, der 112er fährt zur braunen Brücke. Braune Brücke gefällt ihr, brauner Bär, Hagenbeck, Eis, Kuchen. Der Penner bietet ihr ein Brötchen: Kannst du ruhig nehmen, von Kamps, von gestern. Er spricht undeutlich, denn ihm fehlen oben die Zähne. Kati nimmt an, sie fürchtet sonst einen Racheakt. Der Fluss in ihrem Kopf braust wieder los. Sie schaut den Bussen zu. Jetzt stehen der 115er und 113er dicht hintereinander wie unruhige Rennwagen. Eine Frau mit einem langen dunklen Mantel und einem graugrünen Kopftuch geht zum 115er, sie geht ganz leicht, als würde sie unsichtbar sein. Kati kann das auch, sich unsichtbar machen, niemand sieht sie. Nur wenn sie laut lacht, schauen die Leute sie an. Wie soll sie das richtige Zeichen finden? Von den Heimgekehrten oder den fleißigen Lieschen. Sie schaut nach oben. Ein gelber Kran ragt über der Baustelle, sie könnte auf den gelben Kran steigen, die Busse von oben beobachten. Die Zeichen sind von oben besser zu sehen. Sie kann auf den Bus mit den wahren Werten warten. Immer rollen die Wörter wie Wellen in ihrem Kopf hin und her, sie springen in ihren Kopf, Kati will sie nicht in ihren Kopf lassen, aber die Sätze kümmern sich nicht darum. Wieder ein Bus. Er ist rot mit weißen spitzen Sternen, die Spitzen so spitz. Werbung für ein Magazin: Behalten Sie den Überblick. Kati hat den Überblick nicht behalten.
Als Kati im Flugzeug sitzt, muss sie laut über die Postkarte in ihrer Hand lachen. Die Stewardess, die gerade vorübergeht, beugt sich zu ihr herab. Everything okay? Kati nickt und schaut aus dem Fenster. Sie sieht nur pappige Wolken, unter ihr der Atlantik. Sie ist in Sicherheit.
Die Frau neben ihr lächelt sie freundlich an, ich heiße Sigrid.
Es ist so einfach gewesen.
Nach ihrer Flucht aus dem Krankenhaus fährt sie nach Hause. Der Ersatzschlüssel liegt unter dem Blumentopf. Sie versteckt sich im Kleiderschrank. Kati wartet einfach, bis die Polizisten wieder weggefahren sind und ihre Mutter Sylvia das Haus verlässt. Alles bleibt ruhig. Und Post liegt auf der Kommode.
Eine Postkarte, Küstenlandschaft mit Pferd, von Alexandra aus ihrer Klasse. Ach, Alexi. Kati sucht ihren Pass, packt einen kleinen Koffer mit Winterkleidung. Die Karte von Alex steckt sie in ihre Brieftasche.
Am Bahnhof Altona steht abfahrbereit der knallig rot-gelbe Shuttlebus zum Flughafen. Der Busfahrer wird sie bestimmt nicht mitnehmen, denn sie hat kein Geld. Der Fahrer nimmt sie mit. Er glaubt ihr, dass sie verfolgt wird. Geld würde sie am Flughafen abheben. Sie hat noch 700 Euro vom Ferienjob. Sie muss nach Amsterdam fliegen und das Schiff suchen. Der Busfahrer ist aus Südamerika, er schaut merkwürdig in den Rückspiegel. Er beobachtet mich, denkt Kati und duckt sich. Überall Agenten, er könnte ein verkleideter Russe sein, ich muss ganz schnell weg hier. Amsterdam kommt nicht infrage, zu viele Agenten.
Dann sitzt sie im Flugzeug nach Island. Es waren noch Plätze frei im Flugzeug der Icelandair, jeden Mittwoch von Fuhlsbüttel nach Reykjavik.
Die Pferde sind voll süß. Meines heißt Wicky. Ich bin in Hella, 200 km von Reykjavik auf einem Pferdehof. Nico war letzten Monat hier. Jetzt wieder voll einsam. Grüße von Alexi. Kati untersucht die Postkarte genau. Hella. Wicky. Sie lächelt, denkt an Wick vaporup und an Hustensaft. Es riecht gesund. Das ist ein Zeichen. Das Flugzeug geht tief zum Landeflug. Kati sieht den grauen wüsten Atlantik und die Berge ohne Bäume.
Sie steht mit ihrem Gepäck und Alexandras Postkarte in der Hand auf dem Parkplatz und wartet auf den Jeep. Rauer Flughafen Keflavik.
Sigrid, die im Flugzeug neben ihr saß, ist Isländerin, lebt in Hamburg. Sie hat die Postkarte gesehen und Kati angesprochen: Die Ponys von Hella sind berühmt. Ich fahre in Ihre Richtung. Ich muss weiter nach Osten, ich kann Sie mitnehmen.
Jetzt fährt der Jeep vor. Steigen Sie ein, sagt Sigrid. Schnallen Sie sich an, unsere Straßen sind ein Abenteuer.
Kati steigt ein. Ich muss den Namen finden. Ich suche ein Schiff, verstehen Sie?
Natürlich, sagt Sigrid und startet das große Auto. Isländerinnen sind stark, fühlt Kati.
Der Jeep verschwindet hinter einer Wolke aus Lavaschotter, der unter einer dünnen Eisschicht liegt.