Marita Lamparter: „Kurze Texte sind für mich Momentaufnahmen wie ein Foto.“
Eine bescheidene Landschaft
An der Flusswindung stehen mächtige Weiden. Ihre Äste reichen tief ins Wasser. Die breite Flussaue ist grün, üppig bewachsen, aber hier geht’s nicht weiter, die Nutzflächen reichen bis zum Ufer. „Landwirtschaft“, denkt sie, „und wirklich ein bescheidener Fluss.“
Sie schaut zum Ufer, hier fließt die Lippe, glitzert blau vom Zulauf der Pader, fließt weiter, fast unbemerkt auf verschlungenen Wegen durch diese unspektakuläre Landschaft und verschwindet im Rhein.
Stille, blauer Himmel und die weißen Wolken hängen tief. Ein Traktor ist zu hören.
„Da hinten ist ein Hof“, sagt ihre Tochter, „ich muss hier nicht meditieren.“
Die Mutter will sich nicht drängen lassen: „Wir haben genug Zeit.“
Sie sind am Fluss gelandet, weil sie die falsche Abfahrt genommen haben und dann auf Landstraßen weiter gefahren sind. Sie möchte ihre Tochter auf die Schönheit der Landschaft hinweisen, aber sie unterdrückt diesen Impuls. „Lassen Sie ihr Zeit!“ hatte der Arzt gesagt.
Auf einer Anhöhe liegt ein Gehöft wie angeschmiegt in der welligen Landschaft. Hohe Pappeln rahmen den Bauernhof ein. Mutter und Tochter gehen zurück zur Straße und zum Auto. Sie entdecken ein Hinweisschild: “Zum Gänsehof.“
„Ich esse auf keinen Fall Gänsefleisch!“, mault die junge Tochter.
„Wir sollten erst mal sehen, ob die Gaststätte überhaupt offen ist.“ Sie versucht einen möglichst neutralen Ton anzuschlagen. Bloß jetzt nicht diese leidige Essensdiskussion.
Die Wirtin begrüßt sie freundlich. Die Gaststätte ist über und über mit Gänsen geschmückt. „Früher hatten wir hier viele Gänse“, erzählt die Wirtin und zeigt auf die Zeichnungen an der Wand. Gänsebilder. Gänseporträts. „Die Gänse, die mögen die Auelandschaft der Lippe. Bis ins Rheinland rüber haben wir früher unsere Lippegänse auf den Märkten verkauft.“
Sie zeigt den beiden stolz ihre Gänsesammlung in der Vitrine: Gänse aus Glas, Plastik, Holz, Porzellan. Es müssen Hunderte sein.
„Klarer Fall von Überdekoration“, flüstert die Tochter ihrer Mutter zu.
„Was kann ich Ihnen bringen? Heute ist Pizzatag. Jede Pizza kostet 6,80 €. Wir haben Dortmunder im Ausschank. Sagt Ihnen das was?“
Sie essen Pizza, das Mädchen lässt den Rand liegen.
„Unsere Pizza ist in der ganzen Umgebung berühmt. Unser Koch heißt Hassan, ach, da ist er ja“, erzählt die stolze Wirtin und zeigt in die Küche.
Ein nachdenklicher Mann steht vor dem Küchenfenster als würde er in eine ganz andere Landschaft schauen.