Renate Langgemach

Doppelter Frühling

Essen. Was die Literatur betrifft, fallen mir Der Butt und Das Muschelessen ein, Austern als Symbol für Erotisches, die unverdrossenen Staatsanwälte und Kommissare in französischen Krimis, zumindest solchen, die in Frankreich spielen, sie erweisen sich als Kenner von Wein und Champagner, aller großen und kleinen Menüs, die es in Paris gibt oder im Périgord, zeichnen sich aus als Männer von Geschmack, Galanterie und Weltläufigkeit. Dagegen setzt Heine Sauerkraut mit Stockfisch in kluger Butter, frei nach Deutschland ein Wintermärchen.
Dass Literatur selbst Nahrung sein kann, ist ein anderes Thema. Mir scheint sie unerlässlich wie das täglich Brot.

© Silke Goes

Der Textauszug aus meinem Roman Doppelter Frühling erzählt von einem missglückten Fischessen nach kürzlich erfolgter Trennung vom venezianischen Geliebten Enno.

Nahrung ordnet die Zellen. Sorgt für Boden unter den Füßen. Also entscheide ich mich für eine Einzelfeier mit Fisch. In jenem Viersternehaus, das ich bisher gemieden habe.
Im Hotel hole ich das Kleid aus der Tasche, das früher in Ennos Schrank war, Samt in Rostrot, passend zu meinen Haaren, ordne den Wind aus dem Pony, nehme Puder, Lächeln ohne Falten, den Mund hinein gemalt, Spieglein, Spieglein an der Wand.

Ein Buffet lockt in den Fischtempel, Fischleiber stapeln sich zwischen Muscheln und Tomatenhügeln wie die Glastiere hinter den Schaufenstern auf der Rialto.
Hinter dem Buffet ist ein Aquarium. Wenn man so vor der Vitrine steht, dass man sich spiegelt, schwänzeln die Fische in Algengrün einem direkt durch das Gesicht. Guckt gegenüber auch einer, versteht man die Welt nicht mehr. Dieses Wässrige, Schwummrige bläht sich nach hinten, nach vorn wie ein Bildschirmschoner, und ich frage mich, ob die Aquariumsbewohner einen Namen haben, also Paul oder Paula heißen oder Fasch, oder ob sie einem namenlosen Tod entgegen schwimmen. Ich bekomme den Tisch ganz hinten mit Einfachkerze, gegenüber ist die Schwingtür zur Küche, Barsch in Salzkruste wedelt vorbei, ein Meerspritzer fällt auf mein Einmalset, der Kellner riecht nach Stockfisch, ich bestelle mir Langusten und fühle mich wie auf der Kommandobrücke eines Dogendampfers.

Am Tisch nebenan sitzt eine im Kürschnerlook. Blaustein am Mittelfinger, einen Bullkopf an ihrer Seite, dessen Schlips und Kragen sie zurecht zupft. Dann fingert sie an ihrem Pelzumhang, sticht nach den Gräten im Filet und hustet wegen Fellstaub.
Tisch drei unter dem Fenster ist vorgemerkt und kunstvoll mit Servietten verziert, am Tisch vier sitzt ein Herrenquartett, meine Pasta im Fischmantel ist ein Gedicht und der Sud um die Langusten unergründlich. Ich lasse ihn auf der Zunge zergehen, zugegeben, zu zweit wäre es angenehmer, zaubere meiner Nachbarin Schuppen auf ihren Schoß, damit sie etwas zum Putzen hat, Schildkrötenaugen hinter das Lorgnon und Muschelorden an die Schultern.

Keinen Finger hat er nach mir gekrümmt, keine Nachricht im Fiorita, kein Katzenhaar als Andenken auf der Fensterbank, kein Abpassen hinter einem Häuserbogen. Enno ist einfach weg und basta, das ist zu schlucken. Mit meiner Gabel am Stiel bohre ich in die Langustenkrallen, das Fleisch löst sich nicht aus den Zangenspitzen, also nehme ich sie quer, drücke mit den Daumen – und Fisch und Fett sprenkeln über meinen Tisch.
Für Sekunden wird es still in dem Meerestempel. Man hört die Luftblasen im Fischwasser, Blicke streifen mich, bis mich der Kellner aus meinem Missgeschick befreit. Er lässt alles in der Küche knacken, stellt mir ein Fingerschälchen hin, die Dame im Neo-Pelz kehrt zurück zu Traviatacontutto und Majonnaisedipp. Tabletts, Skeletthälften, ausgehöhlte Schalentiere wandern auf ihrer vorgezeichneten Bahn, ich denke an ein Glasherz im Venusfisch, das schlägt in der Vortasche meines Portemonnaies, an Gondeltreiber und goldenes Licht. Ein richtiges Abschiedsessen hätte er mir anstandshalber lassen können, dieser Seelenräuber.

Das Dolce ist ein Eis in Fischform. Zuerst picke ich in seine Nüsse, hebe ihm sein Bäckchen aus, das ist eine Kirsche aus Piemont. Dann möchte ich wissen, ob sein Leib gefüllt ist. Ich entscheide mich für einen Prüfstich durch die Fischmitte, mir rutscht das Messer aus, es macht Zickzacklinien wie mit einer Saumschere, der Fisch zerfällt, mein Kopf wird krebsrot, Muschelberge walzen zum Eingang hin, knapp kann ich beim Zerteilen vom Eisfisch meine Finger verschonen – denn durch die Tür eben dieses Restaurants tritt Enno, gefolgt von einer Dame.

Er lächelt in die Runde, ganz Mann von Welt, Herzmuscheln fliegen ihm zu, hebt ihr den Mantel vom Leib, rückt ihr den Stuhl zuunterst, legt ihr eine Stola um, w i e er das tut ... dass er zärtlich sein kann, weiß jeder, aber so über die Maßen besorgt, als käme sie direkt aus der Glasmenagerie. Mir hat er nie den Mantel von den Schultern gezogen, ich musste heimlich in seine Tür, mich in mein Kleid transformieren, bevor ich unter seine Augen durfte und bloß keine Berührung mit den profanen Seiten des Lebens wie Busbahnhof oder Reisetasche, es könnte ja dem Auslöserfinger schaden!

Also Enno mit dieser Frau. Ich habe sie ja selbst auf seinen Fotos entdeckt. Trotzdem fährt mir der Schreck in die Glieder. Da bewegt er eine Braue in meine Richtung, das ist seine Begrüßung zum vierten Tag unserer Trennung, die Kellner bückeln um ihn herum, und ich frage mich, ob er h i e r unseren Venusfisch gekauft hat frei Haus für gesellige Stunden in intimer Atmosphäre.
Sie macht mich ganz nervös, diese Frau, eine Art Seepferdchen mit Hut und kurzsichtig. Ihr Wipfel auf dem Kopf hüpft wie bei einem Zebra im Zirkus. Haltung ist gefragt und nur nichts verderben lassen, verunglücktes Dessert hatte ich erst vor ein paar Tagen. Ich löffele das Halbgefrorene, sehe meinen Ex-Geliebten im Aquarium unterlegt mit Rotschwanzgesträuch und seine Dame im Profil.
Ihr Kleid ist hell und schmal, Silberpaspel schräg vor dem Dekolletee, alles fein italienisch, eine Brille trägt sie, sonst wäre es zu perfekt. Ich skalpiere meine Nachspeise mit Entspannungsformel und finde, dass Enno in der Aquariumsscheibe leicht aufgeschwemmt aussieht.
Wie er sie betüttelt! Zwischen jedem Bissen ein Handkuss, jeder Griff sitzt, mein Maestro, Katzenfreund und Liebhaber von nächtlichen Fotos führt sich auf, als würde er vor dem Schlaftee auch noch den Thermostat für ihre Morgendusche regeln.

Der Eisfisch auf meinem Teller ist aufgegessen, mein Stuhl kriegt Bewegungsimpulse aus meiner Hüfte, wenn das so weiter geht, übertragen sie sich auf den Boden, den Muschelberg, denn gerade küsst er sie auf den Mund. Vor meinen Augen! Ich muss sofort hoch von meinem Stuhl.
Auf dem Weg fange ich ihren Namen, santomillegrazia, Graziella heißt sie, wenigstens das hätte er mir ersparen können, wahrscheinlich eine Neuauflage der Monegassin, hatte am Schluss auch eine Brille, dieses Zuckerwesen, ich nehme die Treppe nach unten neben den Muscheln ... bestimmt ist sie eine, die niemals etwas Gegenteiliges sagt, das dankt er ihr mit ewiger Treue, während er mir für einmal den Mund aufgemacht gleich die Tür zugemacht hat!!

Neben der Schminkkonsole befindet sich ein Hocker mit Blumenbezug, darauf lasse ich mich nieder. Enno könnte wirklich feinfühliger mit mir sein. Oder er macht das, um mich zu ärgern! Um mich klein zu kriegen in seinem blöden Venedig! Mit diesem Sensibelchen.
Ich rücke mich vor den Spiegel, finde nichts Nachteiliges, könnte es mit ihr aufnehmen. Ein paar Jahre mehr, aber dafür Charakter. Also nicht feige, aufgepudert und zurück in die Arena!
Plötzlich steht Enno mir im Weg. Rechts zu den Ladies, links zu den Herren, mir wird umgehend heiß, ich lächele ihn an, welch Wandel vom dynamisch-zärtlichen Liebhaber, der einen zwanglos in die Lüfte hebt, zum Herrn mit dem Flair eines Maßschneiders.
Dein Flug geht in drei Tagen?, fragt er, Gott ja, fällt ihm nichts Besseres ein zwischen Blumenhockern und Spiegeln, er ist doch vorbereitet auf dieses Rencontre und nicht ich. Ich hoffe, dass du gut ankommst.
Für mich klingt das wie: gut, dass du bald verschwindest. Aber alternde Herrenschneider sind höflich, sie schaffen die unerwartete Wendung, in ihren Tönen klingt etwas Wissendes und etwas Liebes und sie kennen den Wetterbericht für Heimkehrer. Er ordnet mir ein Haar, dabei liegt eine Sekunde seine Hand auf meiner Stirn, ich fühle mich wie mit zwölf und mit Strom in den Adern und allen anderen Abteilungen vom System!

Kaum habe ich mich gefasst, ist er verschwunden. Hinter der trennenden Tür, die mir jeden Einlass verbietet, weil sie die Geschlechter endgültig auf ihre Planeten verweist. Rechts vom Treppenaufgang sitzt die Gazelle, pardon, Grazielle, die auf ihren Tischherren wartet, in mir tobt der Rest seines Wunderlabs, im Mittelgrund das Feld meiner Fischschlacht, es wird Zeit, dass ich zahle.
Das Trinkgeld fällt höher aus als geplant, dafür bekomme ich einen Lift in meine Jacke, an der Treppe rutscht mir die Rechnung aus der Hand, die ich als Souvenir einstecken wollte, scusi, Signora, wie sollte es anders sein, Enno hebt sie mir auf, da schießt uns beiden das Blut in den Kopf und macht für eine Sekunde unsere Anzüge gläsern.

Auszug aus meinem Roman Doppelter Frühling, Edition Contra Bass, S. 85 ff