Renate Langgemach
Auszug aus meinem Roman Doppelter Frühling, Edition Contra-Bass.

Lou ist in Venedig. Sie läuft durch die Hintergassen und nach San Marco, ihr Blick getrübt (oder eher geklärt?!!), weil sie zurückgewiesen wurde von ihrem venezianischen Liebhaber.

Ein Pfahl steckt im Wasser. Wenn eine Welle kommt, schwankt er. Ein Stein schwankt auf dem Pfahl. Das Haus schwankt. Das Bett schwankt. Ich mit ihm. Mein Nachtschrank schwankt, der Spiegel, die Karren, die hier überall durch die Gassen rumpeln, zehn Kisten Cola ins Falzone. Und noch mal zehn Kisten. Es ist Zeit zum Aufstehen. Mein Bett auf dem Stein, der Stein auf dem Pfahl, der Pfahl im Wasser, die Cola in den Keller, Stimmen, Karrenschieben, Türenklacken, Absatzklacken … ich mache mich auf den Weg, drücke mich an den Häuserwänden entlang und verliere für ein paar Minuten das Inselbewusstsein, weil es weiter geht nach rechts und links wie zu Hause, ohne dass gleich eine Sackgasse plus Wasserlauf kommt.

Hier spielt das Wasser mit dir wie eine unberechenbare Geliebte. Meistens ist sie zahm und zärtlich, aber wenn sie zupackt aus unvorhersehbaren Gründen, kannst du dich nur noch ins obere Stockwerk retten oder auf einen provisorischen Laufsteg. Als hätte Venedig sich gegen das Meer stemmen müssen, bloß keine falsche Bescheidenheit, Schmuck und Schnörkel sind in das Wasser geschoben und das zählt bis heute.

Nach der fünfundvierzgsten Gasse mit Moosfüßen, Wäsche am Drahtseilzug, blauen Türen, die von unten angefressen sind, Treppen ins Uferlose und Löwe mit Flügeln auf dem Dachsims geht es in das Offene. Die Kanäle zeigen zu den Bergen, die man mit Glück dreimal im Jahr zu sehen bekommt, da liegen Boote mit Außenborder, der Motor ist zum Festmachen nach innen gekippt, ein Parka darübergeschoben, der Name auf den Bootsplanken verblichen. Zementpakete, Fischernetze, leere Eimer, kein Kissen, kein Gondoliere mit Sonderzubehör. Die Sonne schickt ein paar Strahlen in die Schluchten und Gänge, eine Ratte rutscht am Ufer entlang, eine tote Möwe dümpelt zwischen den Duckdalben. Kinder spielen Ball. Wenn er in die Brühe fällt, kriegt man ihn über Bootssprünge wieder oder mit einem Netz am Stiel. Ich lehne mich an einen der Poller am Kanalrand und schaue ihnen zu.

Auf dem nächsten Platz steht ein Baum. Eine Steinbank führt um ihn herum. In der Baumbiegung ein Beinknotenpaar. Zwei Teenies haben sich einen Anorak untergelegt. Stillen statt Hunger ihren Durst. Trinken sich die Münder leer. Ein bisschen verlegen sind sie, als ich mich auf die andere Baumseite setze. Ich bin in Venedig, muss ich denken, nicht bloß im Museum. Sie sind zu Hause. Verschmelzen mit der Bank und dem Baumstamm, mit ihrem Baum in ihrer Stadt!

Venezia si. Du Schöne auf Stelzen! Heute. An meinem letzten Tag. Ich werde mir Schuhe kaufen. Bei Roberto Kuchen essen. Seine Hände bestaunen, die größer sind als sein Laden. Werde über Ungereimtheiten hinwegsehen. An meinem letzten Tag. Über den Markusplatz treiben. In den Dom, in den Mosaikenstrom zu Duftampeln und Gold. Terminlos der Sonne entgegen! Heiligenscheine säbeln im Wind, Mimosen hocken auf Blechhauben, so eine Kirche verbindet alles, was ihr über den Weg läuft. Jesusmützen, Turbankuppeln, Bronzen aus Byzanz. Sie hält Markt und Gericht, Gesänge und Gestammel jedweder Nation.

Zwischen Chorgestühl und Kapelle dreizehn arbeitet das Reinigungsteam. Sie haben Besen, mit denen man in der Menschenmenge einen Freiraum von Teichgröße schaffen kann. Beim Zuschauen frage ich mich zum ersten Mal, wie man Kirchen sauber hält, was die halbe Nacht lang geschieht, damit von den Lüstern keine Spinnenweben hängen, Maria unbestäubt bleibt, und ob es nicht großartig sein muss, gerade hier den Fußboden zu pflegen.

In der nächsten Ecke hängen Schilder mit Fotos und Blumen neben einem Sarkophag, die Bänke in der Kapelle sind voll und ich setze mich zwischen die Leute. Ein Mädchen zieht einen Vorhang zu.