Susanne Neuffer

Die Frau. Der Bär.

Wenn in einem Abteil nur ein Platz reserviert ist, und zwar erst ab der Mitte des Landes, ist es in Seuchenzeiten schlau, sich schon im Norden in dieses Sechser-Abteil zu setzen. Bis G. bin ich, wie immer ohne Reservierung, also in diesem Abteil allein. Dort aber steigt sie zu: alt, elegant, versehen mit qualitativ anspruchsvollem Gepäck von einer dieser Marken: weitgereist und biofair. Dazu gehört eine Tasche, aus der ein riesiger Plüschbär ragt.
Oh, denke ich, eine Großmutter unterwegs zu den Enkeln, wie schön.
Ein, sie beansprucht das Abteil nicht allein, ich kann bleiben.
Nach kurzer Arbeit an ihrem Smartphone – was zeigt, dass sie nicht von gestern ist - holt sie den Bären aus der Tasche. Er ist wahrhaftig groß, man muss ihn liebhaben.
Prüft sie seine Qualität? Eher nicht, sie setzt ihn sich auf den Schoß, kuschelt ihn in den Arm, sein runder Kopf lehnt an ihrer Brust. Jetzt zieht sie noch ein dickes Buch (Format: Märchenbuch) aus der Tasche, schlägt es auf, so dass der Bär einen guten Blick auf die Bilder hat, denn es sind Bilder drin, soviel sehe ich beim angestrengt unauffälligen seitlich Hingucken.
Ich halte den Atem an. Was wird geschehen? Wird sie laut vorlesen?
Nein, ich höre nichts, sie scheint auch hinter der Maske nicht zu flüstern.
Es geht mich nichts an, wenn eine alte Frau einem Plüschbären ein Märchenbuch zeigt.
Woher will ich wissen, dass es ein Märchenbuch ist? Es könnte auch ein Anatomiebuch sein. Aber wie komme ich auf Anatomie?
Die Zeiten sind schwierig, die Menschen sind einsam. Man weiß, dass Teddybären gute Gefährten sind, in Isolation und Trauer.
Ich könnte meine Zeitung weiterlesen. Ich kann meine Zeitung nicht weiterlesen. Natürlich linse ich aus den Augenwinkeln zum Fensterplatz.
Will sie, dass ich mich wundere, dass ich sie frage („Für die Enkel?“) und damit ein Gespräch beginne?
Vielleicht steckt etwas anderes dahinter, und zwar im Bauch des Bären. Möglicherweise transportiert sie für ihren Enkel, der schon groß und bei der Mafia tätig ist, Heroin oder dergleichen oder eine entwendete KSK-Waffe, die diskret zurückgegeben werden soll. Hat man ihr eingeschärft, dass sie auch im Abteil wach und wachsam bleiben soll? Oder ist da drin, unter dem Fell, umhüllt von Eis und dicken Kunststoffschichten etwa Impfstoff, der von der besseren Sorte, irgendwo abgezweigt für die Familie?
Wahn, Rauschgift, Medikamentenschmuggel oder doch nur schlichte Lust an der Provokation: all das ist nichts, was meine Lektüre vorankommen ließe.
Ein letztes Mal äuge ich hinüber, um zu sehen, ob ihre Augenfältchen hinter der Maske etwas verraten, vergeblich. Der Finger bewegt sich langsam, aufmerksam auf der Buchseite. Der Bär könnte im Verlauf der Fahrt noch das Lesen lernen, scheint mir.
Ich nehme, lange vor meinem Zielbahnhof, meinen Rucksack und meine Zeitung und verlasse, einen Gruß murmelnd, das Abteil, lehne mich nahe beim Ausstieg an die Toilettentür und blicke hinaus.
Da draußen sind die Kasseler Berge, Wälder, Tunnel, Mühlenräder und ab und zu ein Märchenschloss, schön und vertraut. Vielleicht reicht das als Erklärung.