Wir sind drei Autorinnen:

© Carmen Oberst
Marita Lamparter
schaut sich die Menschen genau an. Sie erzählt davon in Dorfgeschichten aus Westfalen und Stadtgeschichten aus Ottensen.

Renate Langgemach kann in ihren Romanen einen Hang zu in Schieflage geratenen Verhältnissen nicht verbergen.

Susanne Neuffer erzählt von Leuten, die sich und andere gern täuschen und meist unruhig unterwegs sind.

Blog 8 ist wieder einem einzigen Thema gewidmet (Energie sparen! Aufmerksamkeitsökonomie beachten!), nämlich der LESUNG. Wir können von einer gelungenen Veranstaltung im Rahmen der Hamburg liest draußen-Reihe des Writers' Rooms berichten.
Am 14.10.regnete es nicht, das Lokalderby hat nicht verhindert, dass wir alle rechtzeitig da waren: Gudrun Hammer, Marita Lamparter, Renate Langgemach, Susanne Neuffer und der Musiker/Autor Stefan Iserhot-Hanke. Die Technik klappte, das Publikum kam und blieb. Die Bilder (von Frank Isheim) erzählen, wie es war, wir waren zufrieden. Dank an die fördernde Kulturbehörde und den Writers' Room in Gestalt von Hartmut Pospiech!
Zwei kurze Texte aus der Veranstaltung haben wir angehängt.

Im Bahnhofscafé von Lüneburg und in einer Wendland-Idylle dachten wir am folgenden Wochenende über Fallstricke und Chancen bei Lesungen nach. Fragen wurden formuliert, in einen großen irdenen Topf geworfen, jede hat zwei herausgezogen. Die Antworten sind unten zu finden.

Wie geht es weiter? Mit einer Lesung am 20. November 2022 um 15 Uhr unter dem Titel Nachlässe – Geschichten vom Erben und Sterben in der Kultur-Kapelle 6 auf dem Ohlsdorfer Friedhof. (www.kapelle6.de)

Diesmal im Gästezimmer: Stefan Iserhot-Hanke

Notizen zum Thema Lesung

Renate

1. Was ist mit Lampenfieber?

Lampenfieber, auf jeden Fall! Wachsender Stress, Dauer-Nervosität in den Tagen vor dem Auftritt, Angst vor dem Blackout. Das erste Mal habe ich das vor der Abiturrede erlebt. Tagelang war ich unruhig, wird man mich ernst nehmen, wird man mich verstehen, ich vor einer unbekannten Menschenmenge, alle sehen mich, mustern mich, erwarten etwas von mir, es gibt kein Verstecken, kein Davonlaufen, kein Zurück. Dann ist der Einstieg getan und die Sache läuft. Später, in meiner Theatertruppe, war es nicht anders, Angst, den Auftritt zu verpassen, den Text zu vergessen, gnadenlos zu scheitern vor den Augen des Publikums.
Lampenfieber vor einer Lesung? Beim eigenen Text? Vor einer überschaubaren Gruppe? Alles scheint einfach. Aber das mulmige Gefühl bleibt. Tage vor dem Termin beginne ich zu üben, gewöhnlich kommen Zweifel auf, ob die ausgesuchte Textstelle geeignet ist. Die ersten Durchläufe klingen unterkühlt - eine lange gepflegte Mode in der literarischen Szene - oder aufgesetzt, zuviel Pomp und Drama. Aus dem Hinterzimmer raunt eine Stimme, bei deinem Wunderton schläft jeder ein, mein Unruhepegel steigt.
Dann funktioniert es doch, ich bleibe schlicht, das richtige Wort ist hervorgehoben, das Bild richtig gesetzt - besonders meine Poesie, kontextarm wie sie ist, lebt von inneren Bildern. Wenn ich sie beim Lesen vor mir sehe und nicht mehr an Wort und Zeile klebe, kommen die Bilder bei den Zuhörern an.
Ich bin gut vorbereitet, weiß, dass wie so oft alles klappen wird, ist es aber soweit, ist das Lampenfieber da - jeder Schauspieler, jeder Musiker wird sagen: ohne geht's nicht, es hebt die Spannung, erhöht die Aufmerksamkeit, macht die Sache rund.

2. Was lese ich bloß …

Bei Lyrik: ist es ein mir gewogenes Publikum und ein entsprechend ausgewiesener Ort, kann ich etwas nicht sofort Zugängliches wagen. Andernfalls wähle ich Gedichte, die anschaulich und erzählerisch sind.
Bei einem Roman, der auf dem Büchertisch liegt, vorgestellt werden und schmackhaft gemacht werden soll, scheint es einfach: fang doch vorne an. Manchmal aber sind die ersten Seiten zu wenig aussagekräftig. Dann stelle ich einzelne Passagen zusammen, die Einblick in die Romanstränge geben.
Geht es um Spannung, wird es schwieriger: 'Es ist nicht leicht, einen Kriminalroman vorzutragen, genug Spannung zu erzeugen, den Schlüssel aber, die Lösung, bei sich zu behalten. Rickley gelang das. Da war Verruchtes und Verbotenes. Vom Sog des Verbrechens.'
(Zitat aus einem unveröffentlichten Manuskript.)

Susanne

3. Wer hört da zu?

Das Publikum ist eine unberechenbare Größe.
Das Wunschpublikum füllt einen großen Saal, ist wegen der blendenden Scheinwerfer im einzelnen nicht identifizierbar, hört atemlos zu, fühlt und denkt mit, ist begeistert, verstrickt sich am Ende in eine tiefgründige Diskussion, für die die Autorin nicht gebraucht wird. Und steht Schlange zum Signieren.
In Wirklichkeit ist es in der Bezirks- und Regionalliga anders: Die Räume sind klein, die Zuhörer handverlesen und meistens kennt man sie, Freunde, Familienangehörige, schreibende Kolleginnen, ein paar Zufallsgäste, die über den Aufsteller der Buchhandlung gestolpert sind. Die man kennt, lächeln ermutigend, wärmen einem das Herz, werden am Ende etwas Aufbauendes sagen und ein paar Tipps geben. Lies lieber was anderes. Lies nicht so schnell. Wieso hast du das angezogen? Das Lampenlicht von unten ist nicht so günstig. Aber es war toll.
Die man nicht kennt sind das Spannungsmoment des Abends. Wird die Dame in der ersten Reihe die ganze Zeit so gelangweilt/brummig/ironisch dreinschauen? Hat der Mann da hinten als einziger gemerkt, dass die Stelle komisch gemeint ist oder lacht er über etwas anderes? Ist die Junge am Rand vielleicht ein Literatur-Scout? Und wird wieder jemand sagen, dass ein Happy End schöner, richtiger gewesen wäre?
Man braucht sie beide, die liebevollen unverdrossenen Bodyguards, die einen nicht hängen lassen, und die unbestechlichen Fremden, die kopfschüttelnd gehen. Und beide haben das Recht auf handwerklich saubere, aufmerksame Arbeit.

4. Allein gegen den Rest der Welt

Wenn der Veranstalter sehr mutig ist, kann man alleine lesen, sich an dem Tischchen breit machen (Uhr, Wasserglas, Zettel, Brille, Buch, Handtasche), über die Lesezeit frei verfügen, die durchdachte Dramaturgie ablaufen lassen oder umwerfen, den Applaus allein einstecken. Auch die Fragen, die dann kommen oder nicht kommen und wie Nebelschwaden im Raum hängen, hat man selber zu bewältigen.
Gelegentlich jedoch wird man wie in der Schule an einen Gruppentisch gesetzt, mit ein paar anderen Schreibenden zusammengewürfelt.
Die Schlange Konkurrenz hebt ihr schillerndes Köpfchen.
Aha, die schreiben auch. Die überziehen bestimmt. Hat die sich aber aufgebrezelt. Gut, dass ich als erste lese, da ist das Publikum noch frisch. Gut, dass ich am Schluss lese, da kann ich den Abend noch retten.
Was man mit der Zeit lernt: Gruppenlesungen sind leichter. Fürs Publikum sowieso, da ist spätestens nach einer Viertelstunde Wechselstimmung. Für die Lesenden, die die Last nicht alleine tragen, unterhaltsam, sprachlich differenziert und schlagfertig sein zu müssen. Das Ego kann sich vom Feedback einstreichen, was es braucht, und sich nach seiner Viertelstunde mit einem Glas Wein in der Hand zurücklehnen, das Feiern hinterher ist auch lustiger. Voraussetzung ist die Unterschiedlichkeit der Autoren und Autorinnen. Fünfmal traurige Autofiction oder hochkomplexes Nature Writing wäre der Tod im Topf. Die Mischung macht's.
Übrigens hat Leander Steinkopf auf 54books etwas Gründliches zum Thema Konkurrenz geschrieben. Lesen!

Marita

5. Gedrucktes und Gelesenes…

Ich selber wähle Texte aus, die zum Publikum passen, da habe ich aber schon schwer danebengelegen, wie z.B. bei einer Lesung in Münster. Texte, die unterhaltsam sind, Pointen haben. Ich orientiere mich ein bisschen vom Genre her am Hörspiel, vielleicht sogar am Kabarett, aber ohne den politischen Bezug.
Wenn niemand lacht, habe ich wohl was falsch gemacht. Dann macht mir die Lesung keinen Spaß. Allerdings bin ich bei „Heimspielen“ sehr festgelegt, niemand möchte ernste Texte von mir hören. Schon nach den ersten Lesungen wurde mir gesagt, dass bei mir der Text durch meine Performance wirkt. Mit so einem Feedback konnte ich zunächst nicht viel anfangen. Dann aber hat mich Jutta Heinrich nach einer Lesung im Erotic-Museum auf St. Pauli angesprochen: „Bleiben Sie dabei! Das hat mit Ihrer Haltung und wörtlicher Rede zu tun.“
Das hat mit Erzähltradition zu tun, mit einer Kindheit ohne Fernsehen, aber mit Radio und mit vielen Erwachsenen und Kindern, die sich über Nachbarn oder Verwandte unterhielten: “Was haben die bloß wieder gesagt.“ Anerkennung in den großen Runden bekam nur der, der die meisten Lacher auslöste und wer gut imitieren konnte. Mein Bruder war z.B. ein Meister darin, die Dorfschullehrer nachzumachen noch dazu mit holländischem Akzent. Verfremden, Übertreiben und Verzerren gehörten zum Handwerkszeug dieser Unterhaltung. Die dörfliche Schule des Erzählens eben.

6. Professionalität/ Rollendiffusion

Unvergessen sind die ersten Auftritte: Das Mikro funktionierte nicht, das Licht strahlte hell wie im OP-Saal, das Manuskript war falsch geordnet, die Zettel verrutschten, die enge Hose kniff auf eine unangenehme Art und Weise. Freundinnen in der ersten Reihe starrten mich an und gaben irgendwelche Zeichen. So konnte der Text nicht aufblühen und mit hochrotem Kopf ging ich von der Bühne.
Neidisch guckt man da auf die großen Autorinnen und Autoren, die wie Stars auf die perfekte Bühne geführt werden und sich backstage konzentrieren und vorbereiten konnten. Aber ich bin ja nicht berühmt.
Aus meiner Zeit als Chorsängerin habe ich viel für Auftritte gelernt, so steht jetzt auf meinem Merkzettel: Bequeme Kleidung, eine kleine Geschichte als Zugabe, eine Uhr, keine schweren Sachen vorher essen und ein Zeitplan. Am Leseort kann man nicht frühzeitig genug sein. Nach unserer Lesung im Heine-Park haben wir uns in die Hand geschworen, beim nächsten Mal jemand für die Betreuung des Büchertisches zu engagieren. Ausgerechnet an dem Nachmittag gab es wegen eines Polizeieinsatzes in der Stadt einen Verkehrstau: Verspätungen, Technikbesprechungen, schon war der Büchertisch vergessen. Obwohl die Bücher geradezu versteckt waren, haben es dennoch einige Zuhörerinnen und Zuhörer geschafft, Exemplare mit nach Hause zu nehmen.

Und hier nun die beiden Texte vom Heinepark – das Publikum hatte den Blick auf die Elbe, Kräne, Containerschiffe und dazu am Ende den Klang eines mächtigen Nebelhorns.

Susanne Neuffer

Die Überfahrt

Wer außer einer Fähre kann noch laut ins Horn stoßen um zu sagen: Da bin ich! Aus dem Weg! Ich bin so lang und breit, dass eine Begegnung mit mir für nichts und niemanden gut ausgehen kann!
Es ist nicht klug, denke ich, all diese Lastwagen und Züge auf die Fähre zu lassen. Sie hat schon so viel geladen, was sie nach unten drücken könnte.
Was wiegt eine Geschichte? Muss die Zahl der Passagiere mit Heimweh und derer mit Fernweh ausgeglichen sein?
Oben in der Pianobar, wo die Fähre leicht ist, spielen die Kellner in schwarzen Westen und weißen Schürzen Szenen einer vergangenen Seefahrt.
Das Paar in der Sofaecke ist noch kein Paar, es sind zwei Einzelne, die einem Sonderangebot gefolgt sind. Die Frau muss jetzt beginnen. Sie schüttelt den Schmuck an ihren Ohren und legt dem Mann die Hand in den Nacken, während sie einen Cocktail bestellt, der nach einem Polarforscher benannt wurde. Es gibt nur eine Hinfahrt und eine Rückfahrt, dazwischen liegt ein eiliger kalter Landgang, von dem nichts zu erwarten ist als Fremdheit und verständliche Fehleinschätzungen.
Vertragsgemäß betanzt eine glitzernde junge Frau die Fläche in der Mitte der Bar, ihr Haar ein Bienenkorb, der eine andere Zeit zitiert, ihr enges Kleid leuchtet grün wie ein Versprechen auf das Polarlicht, das größere Anstrengungen verlangt als diese Passage.
Hinter der Fähre liegt Weihnachten, sie fährt auf Silvester zu, aber dazwischen liegt viel weiße Watte. Sie macht vom Nebelhorn Gebrauch und schwankt nachdrücklich.
Überraschend groß und fahrlässig ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Leute in einem vielstöckigen Haus das Meer befahren und Schnittchen essen, auf denen das Fleisch der Lachse angerichtet ist. Ungesehen geht der Kapitän durch sein Schiff.

Stefan Iserhot-Hanke

Kinder am Fluss

Da hinten sind Kinder
an der Wasserkante
sie spielen im feinen Sand
des alten Flusses

Im diffusen Licht des Nachmittags
bewegen sich stumm
ihre Silhouetten
wie schemenhafte Scherenschnitte

Vom Hafen her verdrängt
ein großes Schiff die Wellen des Stroms

Sie recken die Arme:
„Nimm uns mit, Kapitän!“

Und fährt es vorbei
Richtung Mündung und Meer
verdeckt es ganz kurz nur
die Sonne

Als die Welt wieder hell ist
sind die Kinder verschwunden
leer ist der Strand
wie gewaschen

Und über den glatten Spiegel der Elbe
zieht stumm der Abenddunst

Im Gästezimmer
Stefan Iserhot-Hanke,
der uns bei unserer Lesung nicht nur mit Text, sondern auch mit seiner Geige spontan improvisierend begleitet hat.

Der Autor, Komponist und Kunstpädagoge Stefan Iserhot-Hanke hat Romane, Erzählungen, Gedichte und eine Vielzahl von Kompositionen veröffentlicht. So vertonte er u. a. die Rede Martin Luther Kings Ich habe einen Traum für gemischten Chor und Instrumentalensemble. 2017 erschienen sein Roman Rondeel über eine Hamburger Kaufmannsfamilie in der Nachkriegszeit. 2019 der autobiografische Roman Wir sind die Seligen und 2021 der von ihm selbst illustrierte Gedichtband Lot und Brandung. Das Gedicht Kinder am Fluss entstammt dem aktuellen Band mit Gedichten und Fotografien Dialog auf dem Dach (November 2022). Seit einigen Jahren arbeitet Stefan Iserhot-Hanke parallel an einem Romanprojekt über die vergessene Dichterin Leon Vandersee aus der deutschen Kaiserzeit. Er lebt und arbeitet in Hamburg.
https://iserhot-hanke.jimdofree.com

 

 

unser Termin:
20. November 2022

Gudrun Hammer, Marita Lamparter,
Renate Langgemach und Susanne Neuffer

lesen zum Thema NACHLÄSSE
Geschichten vom Erben und Sterben

Kultur-Kapelle 6 auf dem Ohlsdorfer Friedhof
www.kapelle6.de
Beginn: 15:00 Uhr

 

die Fotos dieser Ausgabe © Frank Isheim
Foto Stefan Iserhot-Hanke privat