Wir sind drei Autorinnen:

© Carmen Oberst
Marita Lamparter
schaut sich die Menschen genau an.
Sie erzählt davon in Dorfgeschichten aus Westfalen und Stadtgeschichten aus Ottensen.

Renate Langgemach kann in ihren Romanen einen Hang zu in Schieflage geratenen Verhältnissen nicht verbergen.

Susanne Neuffer erzählt von Leuten, die sich und andere gern täuschen und meist unruhig unterwegs sind.

Skrova
Fernes Festland, ja
Doch nie an Inseln gedacht
Die eine hat gewartet

Susanne Neuffer

der holzsteg über die düne
die boulespieler
die boote
der geruch der algen

schiffbrüchige des herzens
gestrandet im seevogelsang
hier kommt glück

Renate Langgemach

Nach der Sommerpause, in der alle in Ruhe unsere dritte Blog-Ausgabe zur Lyrik lesen konnten, erscheinen wir nun in der Hoffnung auf herbstliche Kühle und Menschen, die in Pullover eingemummelt, einen Kakaobecher neben dem Laptop, wieder etwas von uns lesen möchten.

Was haben wir im Angebot?
Keinen Corona-Text „Als es vorbei war“. Wer möchte, kann ja die alten noch einmal lesen, sie stimmen auch in der vierten Welle noch.

Im Mittelpunkt unserer Ausgabe 4 sind Texte und Gespräch zum Thema ORTE. Wobei ORTE natürlich nicht geht, das steht schon auf einem Band von Marie Luise Kaschnitz. KEIN ORT NIRGENDS geht auch nicht, das gehört Christa Wolf. Aber IRGENDWO DAZWISCHEN siedeln wir uns mit unseren Geschichten und Fragestellungen an.

Renate Langgemach
hat dazu zwei Ausschnitte aus ihren Romanen ausgewählt.
Marita Lamparter
geht zurück in das Dorf der Kindheit und nach vorne in Clarissas Garten.
Susanne Neuffers
Protagonistin erlebt Merkwürdiges im Zug von A nach B.
Gudrun Hammer
lässt etwas auf dem Friedhof beginnen, das sehr weit führt.

Zum Leben und Schreiben im Vorort wird Alexander Posch
von Marita Lamparter befragt.

Man kann uns gerne weiter empfehlen, auch Rückmeldungen und Anfragen wegen Lesungen unter info@textX3.de würden uns sehr freuen. Näheres zu uns und unseren Büchern steht im Menu unter Autorinnen.

Hier noch ein bisschen Werbung: Im November erscheint Susanne Neuffers neuer Lyrikband
Die Kühlschränke des Nordens in der Edition Hammer + Veilchen, verlag@prinzessinnenhaus.de.

 

 

Werkstattgespräch ORTE

© Carmen Oberst

Marita:
Zunächst waren wir spontan begeistert, dann etwas erschlagen von der Größe und Wucht des Themas. Es umfasst ja so viel: vom kleinsten Raum wie dem Kaninchenbau bis hin zum Weltraum, von mystischen Orten, Schreckensorten, Sehnsuchtsorten, Nichtorten, Orten der Phantasie. Von Friedhof, Frisör und Frittenbude zu Hotelzimmern, Bahnhöfen, Flughafen-Terminals: Orte sind Teil unseres Lebens. Orte zum Bleiben, Beharren oder Transit-Orte.

Hier wollen wir herausfinden, was Orte für unser Literaturverständnis und für unser Schreiben bedeuten. Sind sie der Beginn einer Geschichte? Strukturieren sie unsere Texte, wie oft beschrieben wird?

Susanne, bei deiner Lesung in der Bücherstube am Krohnstieg hast du die Geschichte „Bärenwache“ vorgelesen. Sie spielt auf Ny Ålesund, Spitzbergen. Am Ende der Geschichte sagt die Protagonistin etwas resigniert: „Die Zeit der Reiseerzählungen ist vorbei!“ Meinst du das auch? Dein Personal ist doch dauernd unterwegs.

Susanne:
Ich mag den Satz und halte ihn teilweise für richtig. Teilweise. Weil die Sehnsuchtsorte der Welt schon lange in Kalendern, Bildbänden und wohl auch auf auf Instagram verarbeitet wurden. Die Reiseerzählungen der Gegenwart sind Fluchtgeschichten und es wäre anmaßend, sich da hinein zu schreiben. Und dennoch bin ich fasziniert von Orten – vorausgesetzt, es ist kalt dort, ein bisschen einsam, nicht zu schön. Wenn ich meine Erzählungen anschaue, sehe ich ein Muster: Jemand geht irgendwo hin, es passiert wenig, dann geht er weiter oder nach Hause. Wahrscheinlich verknüpfen sich ein Ort und eine Geschichte erst spät: wenn sichtbar wird, wozu das Personal die Landschaft braucht.

Und das wüsste ich jetzt gerne von dir, Renate: Wie abhängig sind deine Figuren von den spektakulären Landschaften, die sie im Rücken haben?

Renate:
Ich würde sagen, es gibt ein Zusammenspiel, sozusagen ein Gewebe zwischen Ort und meinen Figuren, deren Stimmung die Wahrnehmung des Ortes beeinflusst und umgekehrt: Für eine verrückte, etwas unwahrscheinliche Liebesgeschichte, die am Ende zusammenbricht, steht Venedig, Paris spiegelt meinem Protagonisten in Geh du nach Süden seine Verlorenheit und Fremdheit mit sich selbst, dann aber das freudige Erwachen in einer wunderbar bereichernden Welt. Gerade arbeite ich an einem Roman, der sich mit dem Altwerden beschäftigt, hier ist das Gegenüber das Meer, uralt, kraftvoll, weich, in steter Änderung, nie ermüdend.
In der Lyrik übrigens geht es mir eher darum, die Stimmung eines Ortes einzufangen, das, was von ihm ausströmt, das, was ich als Schreiberin dort empfinde.

Marita, deine Geschichten spielen im Dorf. Hast du Lust, da auch mal rauszukommen?

Marita:
Wohl nicht. Ja, es gibt einen Ort, über den ich immer wieder schreiben muss: Das Dorf meiner Kindheit. Ein richtiges kleines Dorf in Westfalen, alle sind katholisch. Die Kirche ist der Mittelpunkt, es gibt noch einen Bäcker, einen Kaufladen, einen Bahnhof, die Dorfschule mit zwei Klassen und - das ist das Besondere an diesem Dorf - es gibt eine Schleuse, denn das Dorf liegt direkt am Dortmund-Ems-Kanal. Ist also mit der Welt verbunden. Es ist eine Welt, die schon lange untergegangen ist. Ich glaube, ich gehe da der Frage nach, wieso bin ich so geworden? Eine große Recherche, aber vor Ort zu sein vermeide ich heute. Ich schreibe den Erinnerungen hinterher.

Habt ihr schon mal daran gedacht eine Geschichte zu erzählen ohne die Beschreibung von Orten? Früher waren die Beschreibungen von Landschaften, Städten, ja von Zimmereinrichtungen in der Literatur ganz wesentlich. Heute haben Orte oft etwas Beiläufiges, oder?

Renate:
In welchem Himmel würde die ortlose Geschichte denn hängen? Für mich ist das ziemlich unvorstellbar. Weil ich auch eine Schublade voller Handschuhe und letztlich den inneren Ort zu den literarischen Orten zähle. Jede Handlung, jede Emotion braucht für mich eine Kulisse, ein Requisit, das sie verortet. Es geht mir dabei nicht um die detailgetreue Beschreibung eines Ortes, die natürlich bedeutsam sein kann, sondern um das, was der Ort mittransportiert für das Erzählte. Im Extrem habe ich das bei der Lektüre von Kafka oder Thomas Bernhard empfunden, in Das Kalkwerk z.B, in dem ein erschreckend kahler, fast lebensbedrohlicher Ort fast alles über einen Charakter sagt.

Susanne:
Kein Ort? Man könnte es versuchen. Wahrscheinlich käme eine Dramenszene dabei heraus. Im Übrigen denke ich, dass ich gar nicht beschreiben kann. Wenn ich beschreiben will, entsteht etwas Lähmendes, wie bei einem Aufsatz („Bildbeschreibung“). Aber wenn ich eine Geschichte zu erzählen habe, spielt die Landschaft einfach mit, schiebt sich ab und zu diskret nach vorne (meine ich). Alles andere wäre – in meinem Fall - Kulissenmalerei.

Ich gebe zurück an Marita: Geht das bei dir, eine ortlose Geschichte?

Marita:
Ein eindeutiges Jein.
Wir leben ja in einer Welt der Bilder, vielleicht sind genaue Beschreibungen deshalb in der Literatur nicht mehr notwendig, Hinweise genügen für die Fantasie der Leserin und des Lesers. Im Clarissaprojekt bilden die Orte mit ihren Farben, Stimmungen und auch Konflikten den Hintergrund für ein bestimmtes Milieu: das der gehobenen alternativen, grün wählenden Mittelschicht in einer westdeutschen Großstadt. Wie ein Scheinwerfer beleuchtet diese Wahl bestimmte Menschen mit ihren ganz eigenen Problemen und Fragen. Es genügen wenige Beschreibungen, um diese Welt nah zu bringen. Aber vielleicht doch nicht: Ich komme ins Grübeln, vielleicht sind Beschreibungen ein zu wichtiges Stilmittel. Deshalb habe ich meine Textstelle ausgesucht: Clarissa im Garten.

Susanne:
Als wir an unterschiedlichen Orten anfingen, über unser Thema nachzudenken, flogen die Einfälle hin und her, so viele, dass es für eine Ringvorlesung für ein ganzes Semester reichen würde. Was fehlt euch hier an dieser Stelle?

Renate:
Mir fehlt von dem herrlichen Gefühl zu erzählen mit einer Figur auf Reisen zu sein, mit ihren Augen die Stadt zu durchforschen, die Plätze zu finden, die sie im Roman braucht.

Und es fehlen Orte, von denen ich gelesen habe, die Verstecke der roten Zora z.B., die mir ein riesiges Mädchen-Universum eröffnet haben, oder Annie Proulx mit ihrem Traumhaus, das sie sich mit über siebzig Jahren in der Wildnis bauen ließ.

Marita:
Ich gehöre zu den Reisenden, die in Lübeck am Thomas Mann-Haus vorbei gehen, in Rom das Haus von Ingeborg Bachmann suchen, in New York bin ich den Arbeitsweg von Gesine Crespahl nachgegangen. Überhaupt New York. Vom Küchenfenster aus hatte ich nicht nur einen Blick auf die Skyline von Manhatten, sondern auch auf den Baum im Hinterhof. Das Buch, an dass ich Jahrzehnte nicht mehr gedacht hatte, war sofort in seiner Gänze da: „Ein Baum wächst in Brooklyn“, ich glaube ich war 15 Jahre alt, als ich es gelesen habe. Und jetzt war der Baum wirklich da.

Und nun: Butter bei die Fische, Geschichten in den Blog!

Renate Langgemach
Auszug aus meinem Roman Doppelter Frühling, Edition Contra-Bass.

Lou ist in Venedig. Sie läuft durch die Hintergassen und nach San Marco, ihr Blick getrübt (oder eher geklärt?!!), weil sie zurückgewiesen wurde von ihrem venezianischen Liebhaber.

Ein Pfahl steckt im Wasser. Wenn eine Welle kommt, schwankt er. Ein Stein schwankt auf dem Pfahl. Das Haus schwankt. Das Bett schwankt. Ich mit ihm. Mein Nachtschrank schwankt, der Spiegel, die Karren, die hier überall durch die Gassen rumpeln, zehn Kisten Cola ins Falzone. Und noch mal zehn Kisten. Es ist Zeit zum Aufstehen. Mein Bett auf dem Stein, der Stein auf dem Pfahl, der Pfahl im Wasser, die Cola in den Keller, Stimmen, Karrenschieben, Türenklacken, Absatzklacken … ich mache mich auf den Weg, drücke mich an den Häuserwänden entlang und verliere für ein paar Minuten das Inselbewusstsein, weil es weiter geht nach rechts und links wie zu Hause, ohne dass gleich eine Sackgasse plus Wasserlauf kommt.

Hier spielt das Wasser mit dir wie eine unberechenbare Geliebte. Meistens ist sie zahm und zärtlich, aber wenn sie zupackt aus unvorhersehbaren Gründen, kannst du dich nur noch ins obere Stockwerk retten oder auf einen provisorischen Laufsteg. Als hätte Venedig sich gegen das Meer stemmen müssen, bloß keine falsche Bescheidenheit, Schmuck und Schnörkel sind in das Wasser geschoben und das zählt bis heute.

Nach der fünfundvierzgsten Gasse mit Moosfüßen, Wäsche am Drahtseilzug, blauen Türen, die von unten angefressen sind, Treppen ins Uferlose und Löwe mit Flügeln auf dem Dachsims geht es in das Offene. Die Kanäle zeigen zu den Bergen, die man mit Glück dreimal im Jahr zu sehen bekommt, da liegen Boote mit Außenborder, der Motor ist zum Festmachen nach innen gekippt, ein Parka darübergeschoben, der Name auf den Bootsplanken verblichen. Zementpakete, Fischernetze, leere Eimer, kein Kissen, kein Gondoliere mit Sonderzubehör. Die Sonne schickt ein paar Strahlen in die Schluchten und Gänge, eine Ratte rutscht am Ufer entlang, eine tote Möwe dümpelt zwischen den Duckdalben. Kinder spielen Ball. Wenn er in die Brühe fällt, kriegt man ihn über Bootssprünge wieder oder mit einem Netz am Stiel. Ich lehne mich an einen der Poller am Kanalrand und schaue ihnen zu.

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Und als Kontrast ein Auszug aus einem Krimiprojekt:

Das Dorf roch nach den Hügeln, die es in eine Senke drängten. Nach Kuhfetzen. Nach der Feuchtigkeit, die die Wälder ausatmeten. Dem Regen. Der Getriebenheit. Dem Geahnten und Verschwiegenen, das sich unter seinen Dächern sammelte. Seit Tagen regnete es und der Nebel hatte sich nicht gehoben. An den Mauern verdichtete er sich zu Rinnsalen. Von den Dachüberständen tropfte er. Jeder Weg war mit Pfützen durchsetzt. Wer zu Hause bleiben konnte, blieb. Wer nach draußen musste, hob seinen Blick nicht. Die Rinnsale formten Regenbäche. Jede Arbeit auf den Feldern lag brach.

Vom Bahnhof bis zum Bäcker bildete das Dorf eine Doppellinie aus zwei Straßen. Von dort bis zum nächsten Bäcker, der große Kuchenbleche entgegennahm, um sie für die Bauernhaushalte mitzubacken, wurde die Linie einfach. Die Häuser waren nebeneinander gereiht, die Grundstücke bildeten bis zu den Bahngleisen und zum Wehrbach, der jetzt über seine Ufer trat, eine Einheit, die durch die Enge des Tals schwer zu stören war und nicht gestört werden wollte. Das Dorf war übersichtlich. Der Regen durchbrach das. Am Tag, als der Regen aufhörte, fand man die junge Frau.

Marita Lamparter
Schwein gehabt

(aus: Dorfgeschichten)

 

Gleich nebenan ist der Schweinestall. Das Holz ist schon spröde und grau verwittert. Im Stall gibt es eine Wäscheleine für Wäschestücke, die nicht jeder sehen soll. Die Wäsche riecht gut, wenn sie abgenommen wird und in der Küche liegt.
Zum Schweinestall gehört das Freigehege, ein buckliges matschiges Gelände, dort liegen die Schweine in der Sonne. Ein friedliches Bild. Sylvia hört ihr Grunzen. Obwohl sie ein ängstliches Kind ist, geht sie gerne zum Schweinestall, sie sitzt auf dem Zaun. Die Schweine grunzen und wühlen in der Erde. Meistens schlafen sie. Sie sind einfach da. Sie grunzen, wühlen und fressen.
Ihr Grunzen hört sich wie Zustimmung an. Die anderen sind blöd, denkt Sylvia, warum bloß? Immer wieder ist die Mutter ungerecht, bevorzugt die Brüder. Das streitet Mutter ab, und das macht es noch schlimmer. Sogar die Schweine wissen um diese Ungerechtigkeit. Sie kommen näher zu Sylvia und legen sich ihr fast zu Füßen. Sie stinken so warm, dass es ihr den Atem nimmt, aber das ist Sylvia jetzt egal.
Einmal hatte sie Oma sagen hören, wie sie zur Mutter, ihrer Tochter, sagte, du bist zu den Mädchen viel strenger, das werden dir die Jungen nicht danken. Aber Mutter schüttelte nur den Kopf, ich ziehe keines der Kinder vor, sagte sie trotzig.
Pah, denkt Sylvia, selbst die Schweine wissen es besser. Und der Pastor hatte mitfühlend geatmet, als Sylvia ihre Neid- und Wutgefühle im Beichtstuhl vortrug. Du sollst Vater und Mutter ehren. Aber wenn die so blöd sind, ist das gar nicht leicht.
Sylvia ist auch heute wieder in den Schweinestall gelaufen, geflohen. Mutter hat wieder den Brüdern geglaubt, sie hat Sylvia noch nicht einmal gefragt, wieso das Missgeschick passieren konnte. Zum Schluss war Sylvia schuld daran, dass die Tassen kaputt waren, obwohl sie gar nicht zu dem Zeitpunkt in der Küche gewesen war. Aber Sylvia hätte eben das Geschirr vorher wegräumen sollen. „Denk doch mal mit“, sagte die Mutter vorwurfsvoll, dann griff sie mit harten Bewegungen zum Besen, um die Scherben zusammen zu fegen. Die Brüder grinsten frech und verlegen, sie spürten auch, dass das ungerecht war. Sylvia ist einfach rausgelaufen, sie wollte nicht vor Mutter und den Brüdern in Tränen ausbrechen. Sie ist zu Bauer Kötter rüber, direkt in den Schweinestall gelaufen. Dort ist sie allein. Nicht ganz allein. Mit den Schweinen natürlich. Die wissen, was Unrecht ist.
Sylvia hat noch das angstvolle Quieken vom letzten Jahr im Ohr. Trotzdem hat ihr die frische Wurst geschmeckt. Sylvia weint nun. Endlich.
Die Schweine schauen sie mitfühlend an. Einen Moment glaubt Sylvia, dass die Schweine ihr etwas sagen wollen.

Vielleicht einen Satz wie: Das Leben ist manchmal wunderlich.

 

Marita Lamparter
Im Garten

Clarissa fragte sich, ob das wirklich eine gute Idee war, die beiden Nachbarjungs von drüben zu bitten, die Gartentische, Stühle und Bänke aufzustellen. Denn sie sah jetzt, dass die Jungen ungelenk, mit zu viel Kraft und knallenden Geräuschen die Biergartenbänke wuchteten als seien es Brückenpfeiler, dazu machten sie alberne Bemerkungen und Handyfotos.
Ich muss unbedingt in ihrer Nähe bleiben und die beiden dirigieren, sonst kann ich später alles wieder neu aufstellen, dachte sie.
Die Brüder Jonas und Kasper waren wie angestochen vom Honorar und der jugendlichen Eile, möglichst schnell wieder zu gehen. Vor einem Jahr war das noch ganz anders gewesen, da zeigten sie sich so bemüht und warteten auf ihre Anweisungen. Sogar über den Schokoladenkuchen zum Schluss hatten sie sich gefreut.
„Die Halterung muss ganz sicher eingerastet sein! Darauf müsst ihr achten“, rief sie ihnen zu.
„Das machen wir doch nicht zum ersten Mal!“ Jonas und Kasper hatten erneut einen Grund zu einem Lachanfall. Clarissa hoffte nun, dass ihr Vater noch rechtzeitig auftauchen würde, denn Michael hatte sich bereit erklärt die Lichterkette aufzuhängen. Vielleicht schaffte er es, seine Söhne in einen anderen Modus zu bringen.
Sie ging zurück zur Terrasse und schaute von oben in ihren Garten.
Das Haus stammte aus den zwanziger Jahren, die Terrasse war noch original mit Natursteinen ausgelegt. Die Steinplatten und Fugen waren in einem einwandfreien Zustand, nur in der rechten Ecke stach ein dunkler Säurefleck ins Auge. „Einmalig“, hatte damals der Makler beim Kauf gesagt, „Das ist richtige Kunst, der Besitzer damals hat italienische Handwerker kommen lassen. So eine Terrasse finden Sie in Hamburg kein zweites Mal!“ Durch die abgerundete linke Seite schmiegte sich die Terrasse wie eine natürliche Ebene ans Haus und die Pflanzenwand schützte vor Blicken und Wind.

Ralf war damals ungeduldig, er wollte den Keller, die Heizungsanlage und die oberen Zimmer sehen. Clarissa spürte, wie er innerlich die Augen verdrehte. „Die Terrasse ist wirklich wunderschön, aber zeigen Sie uns doch bitte zunächst das Obergeschoss.“
Um Clarissa war es aber geschehen, sie wollte auf der Terrasse bleiben, die Natursteine, die italienischen Handwerker, die Pflanzen, sie fühlte sich in ein südländisches Dorf versetzt, sie hatte ihren Ort gefunden. Die wuchtigen Gartenmöbel würden sie austauschen, andere Pflanzen, Oleander natürlich. Den seltsamen Teich, den würde sie zuschütten.

Später fragte sie sich, ob der Makler sie als „Terrassentyp“ eingestuft und ihnen deshalb zuerst den Wohnraum mit Terrasse gezeigt hatte. Ralf machte bei Partys immer gerne Witze über die teuerste Terrasse Hamburgs: “Das Haus ist eigentlich nur Anhängsel einer Terrasse!“

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Susanne Neuffer
Die Frau. Der Bär.

Wenn in einem Abteil nur ein Platz reserviert ist, und zwar erst ab der Mitte des Landes, ist es in Seuchenzeiten schlau, sich schon im Norden in dieses Sechser-Abteil zu setzen. Bis G. bin ich, wie immer ohne Reservierung, also in diesem Abteil allein. Dort aber steigt sie zu: alt, elegant, versehen mit qualitativ anspruchsvollem Gepäck von einer dieser Marken: weitgereist und biofair. Dazu gehört eine Tasche, aus der ein riesiger Plüschbär ragt.
Oh, denke ich, eine Großmutter unterwegs zu den Enkeln, wie schön.
Ein, sie beansprucht das Abteil nicht allein, ich kann bleiben.
Nach kurzer Arbeit an ihrem Smartphone – was zeigt, dass sie nicht von gestern ist - holt sie den Bären aus der Tasche. Er ist wahrhaftig groß, man muss ihn liebhaben.
Prüft sie seine Qualität? Eher nicht, sie setzt ihn sich auf den Schoß, kuschelt ihn in den Arm, sein runder Kopf lehnt an ihrer Brust. Jetzt zieht sie noch ein dickes Buch (Format: Märchenbuch) aus der Tasche, schlägt es auf, so dass der Bär einen guten Blick auf die Bilder hat, denn es sind Bilder drin, soviel sehe ich beim angestrengt unauffälligen seitlich Hingucken.
Ich halte den Atem an. Was wird geschehen? Wird sie laut vorlesen?
Nein, ich höre nichts, sie scheint auch hinter der Maske nicht zu flüstern.
Es geht mich nichts an, wenn eine alte Frau einem Plüschbären ein Märchenbuch zeigt.
Woher will ich wissen, dass es ein Märchenbuch ist? Es könnte auch ein Anatomiebuch sein. Aber wie komme ich auf Anatomie?
Die Zeiten sind schwierig, die Menschen sind einsam. Man weiß, dass Teddybären gute Gefährten sind, in Isolation und Trauer.
Ich könnte meine Zeitung weiterlesen. Ich kann meine Zeitung nicht weiterlesen. Natürlich linse ich aus den Augenwinkeln zum Fensterplatz.
Will sie, dass ich mich wundere, dass ich sie frage („Für die Enkel?“) und damit ein Gespräch beginne?
Vielleicht steckt etwas anderes dahinter, und zwar im Bauch des Bären. Möglicherweise transportiert sie für ihren Enkel, der schon groß und bei der Mafia tätig ist, Heroin oder dergleichen oder eine entwendete KSK-Waffe, die diskret zurückgegeben werden soll. Hat man ihr eingeschärft, dass sie auch im Abteil wach und wachsam bleiben soll? Oder ist da drin, unter dem Fell, umhüllt von Eis und dicken Kunststoffschichten etwa Impfstoff, der von der besseren Sorte, irgendwo abgezweigt für die Familie?
Wahn, Rauschgift, Medikamentenschmuggel oder doch nur schlichte Lust an der Provokation: all das ist nichts, was meine Lektüre vorankommen ließe.
Ein letztes Mal äuge ich hinüber, um zu sehen, ob ihre Augenfältchen hinter der Maske etwas verraten, vergeblich. Der Finger bewegt sich langsam, aufmerksam auf der Buchseite. Der Bär könnte im Verlauf der Fahrt noch das Lesen lernen, scheint mir.
Ich nehme, lange vor meinem Zielbahnhof, meinen Rucksack und meine Zeitung und verlasse, einen Gruß murmelnd, das Abteil, lehne mich nahe beim Ausstieg an die Toilettentür und blicke hinaus.
Da draußen sind die Kasseler Berge, Wälder, Tunnel, Mühlenräder und ab und zu ein Märchenschloss, schön und vertraut. Vielleicht reicht das als Erklärung.

Im Gästehaus I

Gudrun Hammer, Gastautorin der ersten Stunde, lässt ihre bisher unveröffentlichte Novelle Sperlingslust auf einem Friedhof beginnen.

Sperlingslust

Ob sie den Mann gesehen habe, der so schnell zum Ausgang lief. Diese Frage stellte ich Verena nicht.
Vor unzähligen und noch mehr Wegen hatte ich sie gefragt, ob sie die Maus sah. „Wo denn?“ Zusammen standen wir vor dem Grab und warteten darauf, dass sie sich wieder zeigte. Sie tat uns den Gefallen, flitzte am Stein entlang und verschwand auf Nimmerwiedersehen im Efeu. Da waren wir noch im Hellen unterwegs. Viel blauer Himmel zwischen den Baumkronen.
Mittlerweile suchten wir das Grab unserer Freundin im alten Teil des Friedhofs, im kühlen Schattenreich. Hohe Eichen, Weiden und Kiefern, dunkles, dichtes Blätterdach über großen Steinen, Engeln und Stelen. Wir hatten uns verloren. Schon zum zweiten Mal in anderthalb Stunden. „Gehst du da lang, dann guck ich da.“
Inzwischen warf ich nur noch flüchtige Blicke auf die in Stein gemeißelten Namen, hielt vor allem Ausschau nach Blumengebinden und Kränzen auf frisch geharkter Erde. Auf zwei oder drei Gräbern lagen braun-modrige Rosen und graue Lilien neben Schleifen mit Abschiedsworten. Dort hatte die Ewigkeit bestimmt nicht erst vor zwei Tagen begonnen. Und so irrte ich zunehmend mutlos umher, begegnete selten Lebenden und hatte ganz allmählich genug von all den Toten. Und ganz allmählich wurde ich auch der einen großen Frage nach dem Warum überdrüssig. Verena ging es ähnlich. Mehrere Male hatten wir uns in den letzten Tagen getroffen und versucht, Worte zu finden für unser Entsetzen. Katharina war, so schrieb es ihre Tochter in einer Mail, an die Gleise gegangen.
Eher aus Erschöpfung denn aus Interesse harrte ich kurz aus vor einer Marmorschönheit, die sich mit sehnsuchtsvollem Blick und entblößter Brust über einen Grabstein beugte, und nahm mir vor, die Suche bald zu beenden. Hinter mir hörte ich Schritte.
Als ich mich umdrehte, war der Mann an mir vorübergegangen. Etwas an ihm kam mir bekannt vor. In der Hand hielt er eine weiße Rose. Als sei ihm gerade etwas eingefallen, blieb er plötzlich stehen und sah nach links, auf drei von Urnen gekrönte Stelen. Dann kehrte er um, ging wenige Schritte auf ein unscheinbares Grab zu und legte die Rose auf die Grabplatte. Danach stellte er sich mit wie zum Gebet gefalteten Händen auf den Weg, betrachtete noch einmal die Inschrift des Steins, dabei bewegten sich seine Lippen, und blickte dann zu Boden.
Ich näherte mich ihm, so langsam ich nur konnte.

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Im Gästehaus II

Fragen an Alexander Posch

© Miguel Ferrez

Rahlstedt ist der Ort in deinen Kurzgeschichten.
Wie sehr beschreibst du diesen besonderen Ort?

Das fiktive Rahlstedt meiner Geschichten ist meine 'Erfindung'. Zumeist beschreibe ich es provinziell, kleinstädtisch, z.b. mit Hühnerhaltung im Garten. Dieses fiktive Rahlstedt, wie es von mir im Roman Sie nennen es Nichtstun beschrieben wird, wurde von einem Münchner Lektor als Münchner Vorort identifiziert. 'Rahlstedt' besitzt scheinbar deutschlandweit Wiedererkennungswert. Das tatsächlich existierende Rahlstedt ist sehr vielgestaltig. Es gibt Zuwanderer aus der ganzen Welt. Es gibt Hochhausviertel, Reihenhäuser und Villen mit Pools. Da das 'wirkliche' Rahlstedt so bunt ist, kann ich in meinen Geschichten alles schreiben. Denn ich werde niemals an die Wirklichkeit heranreichen.

Und kannst du dich dort noch blicken lassen?

Ja. Als Autor lebt man unerkannt. Wenige Menschen (z.B. in der Bücherhalle) erkennen mich. Noch weniger sprechen mich an. Ich bekomme – weil ich keine sozialen Medien nutze - kaum Rückmeldungen auf meine Veröffentlichungen. Natürlich ist das anders, wenn ich 'live' lese.

Gibt es auch noch andere Orte in deinen Geschichten?

Ich erfinde mir immer verschiedenste Orte für meine Geschichten. Ich habe schon Kurzgeschichten geschrieben, die im Urwald, in Frankreich oder im Marschland Schleswig-Holsteins angesiedelt sind. Aber sehr gerne stemple ich dann doch diesen fiktiven Ort 'Rahlstedt' auf meine Geschichten. Bestimmt wurde ich da von William Faulkners Yoknapatawpha County beeindruckt. Und auch von Juan Carlos Onettis Santa Maria.

Hast du schon mal daran gedacht eine Geschichte zu erzählen ohne die Beschreibung von Orten? Früher waren die Beschreibungen von Landschaften, Städten, ja von Zimmereinrichtungen in der Literatur ganz wesentlich.

Die (fiktiven) langen Landschaftsbeschreibungen von Karl May fand ich als Kind sehr öde. Sie brachten mich davon ab, ihn zu lesen. Ich glaube, ich schreibe auch nur bruchstückhaft von 'Rahlstedt' und jede LeserIn baut dann ein eigenes 'Rahlstedt' im Kopf.
Im französischen Nouveau Roman, besonders bei Alain Robbe-Grillet, mochte ich die 'Ortlosigkeit', das 'Verlorene' der bis ins Detail beschriebenen Räume und Orte.

Woran schreibst du zur Zeit?

Unter dem Titel Verwandlungen schreibe ich an kurzen Episoden aus meinem Leben: Erlebnisse auf weiten Reisen nach Russland, Kirgistan und Australien, Erinnerungen an meine Großmutter im Weserbergland und an Begebenheiten aus meiner Bundeswehrzeit.
Diesen Episoden stelle ich regionale Märchen gegenüber, die ich (bewusst nachlässig und verquirlt mit Ovids Metamorphosen) nacherzähle. Die Fadenscheinigkeit meiner Erinnerungen wird durch die Märchengegenüberstellungen noch einmal hervorgehoben.

Wer ist Alexander Posch?

Alexander Posch (*1968) ist ein Hamburger Autor und Veranstalter unterschiedlicher Literatur-Formate: MACHTclub, Mojoclub u.s.w., er ist seit vielen Jahren auch als Schreibcoach aktiv und versucht Kinder und Jugendliche für das Erzählen zu begeistern.

Veröffentlichungen u.a.:
Sie nennen es Nichtstun, Roman, München 2014.
Schlucker 2000. 33 Köpfe aus Hamburgs literarischer Clubkultur, Hamburg 1999.
Posch ist Herausgeber des Fanzines cóte obscure, no. 1-6.
https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Posch