Wir sind drei Autorinnen:
© Carmen Oberst
Marita Lamparter schaut sich die Menschen genau an.
Sie erzählt davon in Dorfgeschichten aus Westfalen und Stadtgeschichten aus Ottensen.
Renate Langgemach kann in ihren Romanen einen Hang zu in Schieflage geratenen Verhältnissen nicht verbergen.
Susanne Neuffer erzählt von Leuten, die sich und andere gern täuschen und meist unruhig unterwegs sind.
29.6., alles an einem Abend: Deutschland raus aus der EM und textX3.de rein in die heilige Halle der Hamburger Literatur. Wir waren eingeladen unseren Blog vorzustellen. Jeder Tisch im Großen Saal des Literaturhauses war besetzt, endlich wieder Live-Atomsphäre. Heidemarie Ott begrüßte uns mit freundlichen Worten. Gleich vorweg: Ja, auch ältere Damen kriegen das mit den neuen Formaten hin. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie sich das Alte - Literaturzeitschrift - mit dem Neuen - Blog - verbinden kann. Wir experimentieren und gehen weiter der Frage nach, ob die Welt unsere Texte braucht. Zwischendurch kleine Lesungen von uns allen. Thema Corona: Die Gastronomie blieb geschlossen, es gab nichts zu trinken und die Masken mussten trotz Abstand auf.
Einige Zeit nach der Veranstaltung haben wir von Jutta Heinrichs Tod erfahren, unsere Bewunderung galt nicht nur ihrem literarischen Werk, sondern auch ihrem Engagement für Menschen, die am Anfang ihres Schreibens stehen. "… die Stärksten kämpfen ihr Leben lang." Bertolt Brecht
Foto: Sabine Stamer
In unserer neuen Ausgabe textX3.de - es ist die dritte - beschäftigen wir uns mit LYRIK. Zwei von uns, Renate Langgemach und Susanne Neuffer, kommen von der Lyrik und beide stellen zurzeit ihre Gedichte für eine Veröffentlichung zusammen. Renate Langgemach bewegt sich dabei im Spannungsbogen zwischen Périgord und Wendland, Susanne Neuffers Gedichte flanieren ohne Navi durch den Alltag. Im Werkstattgespräch befragt Marita Lamparter die beiden zu ihrer Arbeitsweise. Sie selbst stellt ein Kapitel aus ihrem Clarissa-Projekt vor.
Corona bleibt, auch literarisch: Bei uns mit dem Text „Als es vorbei war 8“ aus der Reihe von Susanne Neuffer, hier zum Thema Impfen.
Am Schluss ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen, die neuen Romane von Judith Hermann und Juli Zeh im Visier.
„Die Lyrik wird geschätzt und trotzdem kaum gelesen.“
So lautet der erste Eintrag bei Google zum Stichwort Lyrik. Aber immerhin:
Es gibt 5,5 Millionen Einträge.
Lyrik. Es geht um Lyrik. Sie hat es seit langem schwer, die meisten, so Andreas Rosenfelder, „betrachten Lyrik offenbar als Naturschutzgebiet am äußersten Rand des Literatursystems, als Biotop für weltflüchtige Sprachbastler“. Andererseits erhalten Lyriker den Büchnerpreis oder sogar wie Bob Dylan vor einigen Jahren den Nobelpreis für Literatur. Ein Gedicht an einer Wand beschäftigte wochenlang nicht nur das Feuilleton.
Marita: Ihr beide schreibt Gedichte.
Renate: Ich habe beim Schreiben von Gedichten so gar nicht das Gefühl, dass ich ein weltflüchtiger Sprachbastler wäre. Für mich ist das Gedicht eine Ausdrucksform, die sich einstellt, die sich auf den Weg macht zu mir und ich kann die Tür aufhalten oder zuknallen, kann das lächerlich finden oder ernst nehmen. Sogar im Werbegeschäft ist Lyrik denkbar, das ist es ja: das passende Bild treffen, mit wenigen Worten eine Aussage herzaubern, mit zwei Zeilen einen Roman erzählen - oder eine innere Bildfolge auslösen, die sitzt: Pack den Tiger in den Tank!
Dass Lyrik auch geheimnisvoll sein kann, nicht auf Anhieb und eindeutig zu interpretieren, ist ihre Stärke.
Susanne: Ich habe mit Lyrik angefangen, mein Gedichtband „männer in sils maria“ bei Maro war überhaupt mein Einstieg ins Schreiben. Dann kam viel Prosa.
Gedichte entstehen „nebenher“, in scharfer räumlicher und zeitlicher Trennung von Erzähltexten. Es ist, als müsste ich im Gehirn dafür eine Datei schließen und eine andere öffnen.
Marita: Für Hilde Domin hält Lyrik die Zeit an, sie ist ein "Augenblick von Freiheit“.
Warum schreibt ihr Gedichte? Um was geht es euch beim Schreiben von Gedichten?
Susanne: Schwer zu sagen. Bei Prosa ist es ganz klar: Ich habe eine Geschichte zu erzählen. In meinem Fall trifft das vielleicht sogar auf meine Lyrik zu: Ich will eine Geschichte in ihrer knappsten, fotografischsten Form erzählen. Und: Man kann sie überall und fast ohne Hilfsmittel schreiben, sie machen unabhängig.
Renate: Tatsächlich empfinde ich diesen Moment von Freiheit beim "Dichten". Freiheit im Sinne von absichtslosem Tun, etwas, das nicht klar begründbar ist, sich in bestimmten Momenten einstellt. Dann fange ich Zeilen ein, kann über sie staunen.
Marita: Aber den einen Moment festhalten begreife ich auch als Absicht und Wollen. Kommen wirklich die fertigen Gedichte zu dir?
Renate: Wenn ich im Lyrik-Modus bin - den kann ich nicht auf Anhieb herstellen, arbeite ich z.B. an einem größeren Prosa-Stück, bleibt die Lyrik aus - fliegen mir tatsächlich Verse zu, quälen mich dann manchmal eine halbe Nacht lang, das können lyrische Fetzen sein (eine taube im stechschritt) oder ganze Strophen. Ich notiere sie, gebe ihnen im zweiten Wurf eine Richtung bzw. verstärke das Angedeutete, ergänze, poliere am Inhalt, erprobe den Rhythmus, bis alles stimmt.
Marita: Wie kannst du denn für dich den Zugang zur Lyrik herstellen?
Renate: Mich bereit halten! Ein intensives Erleben, etwas, was mich beschäftigt, eine Beobachtung, ein Bild, eine Stimmung helfen, Papier, Bleistift und Allein-Sein. Immer geht es um einen zutiefst emotionalen, assoziativen, analogen Ausdruck! Manchmal fange ich ihn auf meiner Jagd. Manchmal bleibt die Beute aus!
Marita: „Wer Lyrik schreibt, ist verrückt, / wer sie für wahr nimmt, wird es", schrieb unser Altonaer Dichter Peter Rühmkorf. Was sagt ihr dazu?
Renate: Aber ja! Ab und zu un grain de folie! Ich mag Verrücktheiten!
Susanne: Der Satz ist und bleibt mir fremd. Ich mag keine Pointen.
Marita: Lest ihr selber Gedichte und wer sind eure Lieblingsdichterinnen und Lieblingsdichter?
Renate: Ich lese Gedichte. Sarah Kirsch, Friederike Mayröcker, Eva Strittmatter, grad mal Nicolas Born.
Marita: Was schätzt du an deren Gedichten?
Renate: Sarah Kirsch mag ich, wenn sie mich in ihre Landschaft und in ihren Alltag mitnimmt, unprätentiös, schlicht. Mayröcker ist meine Quelle für alles assoziative Schreiben, füllig, inspirierend, bei ihr sind es die Worterfindungen!
Strittmatter kann Lebensbegleiterin sein, mit den letzten Gedichten von Born gehe ich los, weil ich neu bin in den Elbniederungen und er mir hier seine Wege zeigt.
Susanne: Ja, ich lese Gedichte, und wenn ich genau hinschaue, sind es wieder die Geschichtenerzähler in der Lyrik, nach denen ich greife: Raymond Carver, Les Murray, Tomas Tranströmer, William Carlos Williams, Mascha Kaléko und Nadja Küchenmeister. Sie haben gemeinsam, dass sie nicht versuchen, hermetisch und abstrakt zu sein. Sie wollen nicht imponieren und sie langweilen nicht.
Marita: Ihr schreibt beides. Lyrik und Prosa. Ich finde ja, dass das euren Texten anzumerken ist. Könnt ihr dazu etwas sagen?
Susanne: In beiden Genres geht es um Verdichtung, Verknappung in unterschiedlichem Ausmaß.
Renate: Ich werde oft auf die Bildhaftigkeit, die Nähe zur Lyrik in meiner Prosa angesprochen. Manchmal gibt es lyrische Einsprengsel, das ist gegen die Verdaulichkeit, gehört zu mir.
Marita: Welche Gedichte habt ihr für unseren Blog ausgesucht? Und warum?
Susanne: Ausgesucht habe ich Die Kühlschränke des Nordens, weil mein nächster Lyrikband so heißen soll, außerdem eine Momentaufnahme aus einem Frühstücksraum und eine andere aus meinem ersten Lyrikband männer in sils maria - damals in üblicher Kleinschreibung. Das Gedicht entstand anlässlich einer Lesung mit Louis Begley, der Ort ist leicht zu erkennen. Sympathie für die Weigel hat zufällig mit Marita Lamparters Textauszug (s.u.) zu tun und steht deshalb hier. Gemeinsam ist dieser pragmatischen Zufallsauswahl, dass die Gedichte ihren Ausgang an Orten genommen haben: it's all about location … .
Renate: sieben kleider und wenn das wünschen wäre habe ich ausgewählt, weil sie zu meinen Lieblingsgedichten gehören. Beide Gedichte handeln von Veränderung, die schwierig und gewagt sein kann, in jeder Lebenslage aber getan sein will. sieben kleider übrigens habe ich irgendwo in Italien geschrieben, wo Hunde in kleinen Hütten am Hang eingesperrt waren, vergeblich die ganze Nacht lang jaulten und bellten.
tage sind engstirnig - ja, die gibt es, an denen nichts klappt, alles einen einengt und über einen hinweggeht! Wer hier wer ist - man könnte darüber streiten! willst du töten, das klingt erstmal provokativ, für mich ist es wie ein Flash auf die Dinge, die weltweit gleichzeitig geschehen, die warmen und die kalten - beide Gedichte durchzieht eine gewisse Schärfe, das gefällt mir. Wir können uns ja für’s Singen (= Dichten mit all seinen versponnen-klärenden Möglichkeiten) entscheiden, siehe mein fünftes Gedicht.
sieben kleider hab' ich getragen
dünn und fest und fast wie die haut
an ihren bändern zu ziehen
begann ich zu wagen
still dabei sein, verlorene braut
haut der schneetage
haut des vergangenen mondes
bergnebelhaut
haut des hundehauses
steinhaut
regenhaut
brannthaut
wenn das wünschen wäre
in jedem napf
wie unvergorenes blut
wünschte ich mir
mohnzeit
badete in blau
sprünge über bäche
sprengte das eis
von meinem rücken
und stolperte nie wieder
in den graben
zwischen stillstand
und voran der glieder
willst du töten
geh zu den mördern
sie sind gut finanziert
willst du kämpfen
tu es für deine brüder
die hinter gittern warten
willst du klagen
geh an die klagemauer
niemand hört dir zu
willst du singen
dann nimm deine gitarre
geh auf die meseta des cantandores
sing
vom freudenmädchen mit rotem schuh
von dem kind, das dir die hand entgegenstreckt
sollst ihm eine münze hineinlegen
dem drecksschnabel
von der frau,
mit der du das paradies geteilt hast
und dein zimmer in neukölln
von den imperatoren
die kein pardon kennen
und die liebe nicht
tage sind
engstirnig
breitbeinig
stur
ziehen mich über den tisch
wollen nichts
von mir wissen
prägen mir
ihren stempel auf
vergessen das atmen
unter verschalten wänden
grauen unberührbaren
dächern
hände
hilflos
in ihren hosentaschen
als dichterin,
das soll es geben,
hab ich zwei
oder drei
oder noch mehr leben,
bin königin
mörderprinz
möchtegern
bin mutter
und wandernder
wahrheitsstern
es wäre vermessen
zu glauben
ich sei, was ich schrieb,
nichts bin ich
als ein dieb
Renate Langgemach
Die Kühlschränke des Nordens
Die Kühlschränke des Nordens
singen
das alte Lied vom Eis
singen falsch
mehrstimmig surrend
intermittierend
in den Hütten und
in den großen Küchen
wo die Stiefel vor der Tür qualmen
und die Backöfen
grimmig leuchten
Wie sollen sie standhalten
Wie lange noch
lesung
die anwältinnen zeigen dem dichter
dunkle schenkel
hilfskräfte
bemühen sich
um einen österreichischen unterton
die stuckbabies an der saaldecke
scheißen farbsplitter auf die andacht
eine frage stellen
oder gleich
an die bar
(aus: männer in sils maria, maroverlag 1999)
Frühstücksraum
Ich grüße die Paare
und stelle mir ihr Leben vor
Diese alte Frau dort
bewacht den Vitaminhaushalt des Mannes
Sie presst zwei Apfelsinen an die Brust
wo sie gut Platz finden
Nun ja Apfelsinen im September
so kurz vor dem Polarkreis
Da muss man zulangen
sonst holt einen der Tod
dem man gerade
auf diesen
wunderbar
leichten
Glasfiberstöcken
davonlaufen möchte
Sympathie für die Weigel
Nach Durchsicht zahlreicher Bücher
entsteht das Bild einer Siegerin
Immer das Ziel im Auge: die Bühne
eines Tages
anderswo
wenn die Zeit da ist
Dafür nimmt sie in Kauf
dass der Mann das Genie das Kind
seine Frauen mit sich schleppt
und sich
im Garten des Fischerhauses
still seiner linken Hände freut
Immer auf dieses Pferd gesetzt
im Herrgottswinkel der reinen Lehre
in boshafter Laune
Knödel gekocht
den Wagen immer wieder beladen
und hinten drauf
sein Spielzeug
Susanne Neuffer
Fotos: Carmen Oberst
Marita Lamparter
Unterwegs in Ottensen
Clarissa geht in Ottensen auf den Markt. Sie möchte Blumen für ihr Sommerfest einkaufen, dabei trifft sie zufällig ihren Freund Jens und ihre Freundin Ingrid. An diesem Tag denkt sie immer wieder an ihre alte Liebe Peter, den sie seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hat und den sie auch zu ihrem Fest eingeladen hat.
Clarissa, Festvorbereitungen, eine alte Liebesgeschichte – es dauert nicht allzu lang, bis der Groschen fällt. Es ist ein Spiel mit Motiven und Konstellationen: Die Clarissa, die in einem Hamburger Stadtteil durch die Straßen geht und sich in ihren Gedanken verliert, ist an Virginia Woolf nur angelehnt. Wir finden sie in einer anderen Zeit, mit einem entliehenen Vornamen, eigenen Kleidern und Erinnerungen und einem scheinbar zerstreuten Blick auf die Gegenwart.
In diesem Textabschnitt beginnt Clarissa, die lange als Anwältin gearbeitet hat und jetzt dabei ist, die Kanzlei teilweise zu übergeben, ihren Gang durch den Stadtteil.
Jetzt, im Juni
Jetzt war es Juni und Bürgermeister Scholz machte Urlaub. Geschäftsinhaber standen in ihren Schaufenstern und dekorierten für die Altonale ihre Läden mit Kunstwerken. Ein wunderbares Aquarell im Schaufenster der Apotheke fiel Clarissa gleich auf, aber sie unterdrückte den Kaufimpuls, sie war manchmal so unbesonnen.
Sie würde heute Abend ihr Haus schmücken und erleuchten, das Geschirr aufbauen, ihr Fest geben, ihr berühmtes Gartenfest. Auf dem Spritzenplatz hörte sie das geschäftige Summen der Marktleute und das Lachen des Gemüsehändlers, da sah sie ihren alten Freund Jens. Er war gerade dabei, ein neues gelbes Fahrrad anzuschließen.
Jetzt stand Jens vor ihr. Moin, ich grüße dich, sagte er übertrieben höflich und etwas amüsiert, sie kannten sich schon seit Studientagen. Wohin des Weges?
Ich gehe immer wieder gern in Ottensen einkaufen, das ist viel lebendiger als in der Waitzstraße, meinte Clarissa. Außerdem wurde sie nur hier auf dem Markt noch junge Frau genannt.
Den Gedanken behielt sie aber für sich. Jens würde sie auslachen.
Oder geht's um alte Zeiten? fragte Jens. Nostalgie, Clarissa? Sie standen vor dem Café Prinz, weiße Holzstühle mit blauen Kissen. Hübsch, dachte Clarissa, erinnert mich an die Provence.
Ungewöhnlich um diese Zeit, es sind zwei schöne Plätze frei, wunderte sich Clarissa. Jetzt nicht mehr, sagte Jens mit seinem fordernden Lachen. Herr Prinz begrüßte sie im Vorübergehen: Auch mal wieder da, wollt ihr was bestellen oder nur quatschen?
Heute bediente der junge Mann mit den blauen Haaren und brachte den Americano. Der Kaffee ist nicht heiß genug, dachte Clarissa. Werde ich immer mäkeliger? Fängt so das Alter an?
Jens hatte sein I-Phone zur Seite gelegt. Wie immer, Elke müsse schon wieder zum Arzt, deshalb seien sie hier unterwegs, du kennst doch sicher auch Dr. Weide. Andere Leute kämen nach Ottensen zum Einkaufen und zum Kaffeetrinken auf dem Bürgersteig. Irgendwann werde man das übrigens schrecklich finden.
Was?
Na, das Kaffeetrinken auf den Bürgersteigen. Vielleicht gibt es dann keine Autos mehr in der Stadt und überall wird Kaffee getrunken.
Er freue sich schon auf den Abend in ihrem Garten, auf ihre berühmte Gartenparty. Es werde aber wahrscheinlich etwas später werden, er müsse noch zu einem Empfang in die Hafencity, da brumme es wirklich. Nicht so wie hier in diesem alternativen Museum. Er schaute sie bedeutend an, wie ein wichtiger Nachrichtensprecher aus dem ZDF, der Name fiel Clarissa nicht ein.
Sie fühlte sich immer ein bisschen mickrig neben Jens, fast schulmädchenhaft anhänglich, aber sie fand ihn, auf seine Art, ganz in Ordnung.
Susanne Neuffer
Als es vorbei war 8
...wurde es zu einer Gewohnheit, halbjährlich zum Impfen zu gehen, denn die Verantwortlichen sagten, es sei nie vorbei und zitierten dann den letzten Satz von Camus „Pest“. Wir erhielten die Benachrichtigung, seufzten über den unpassenden Termin, buchten um oder auch nicht, gingen hin, bekamen die Impfung, ließen sie auf dem Gerät oder dem Kärtchen speichern. Einige Unbelehrbare kamen immer noch mit ihrem abgegriffenen gelben Heftchen daher und zwangen das junge Impfpersonal zu peniblen Einträgen per Hand, was dieser Generation offenbar schwer fiel. Allein wie sie den Stift hielten! Aber umso gewandter drückten sie uns das Serum in den Oberarm, manchmal auch in den Schenkel, denn allmählich sahen wir alle so aus wie früher die Abhängigen und brauchten neue Einstichstellen. Nun, Abhängige, das waren wir ja auch, wir würden ja sterben ohne das halbjährliche Ritual. Manchmal irritierte ein neuer Name in der Rubrik, die den Impfstoff anzeigte, ach ja, eine neue Mutante war auf ihrem Ritt durch die Länder und blies ihren heimtückischen Atem in unsere Fenster und Lüftungsschächte.
Weißt du noch, sagte ich zu mir (man sprach noch immer in dieser Form mit sich selber, eine Gewohnheit, die sich erhalten hatte): Weißt du noch die allererste Impfung? Das große Impfzentrum mit den vielen Weißgekleideten? Die langen Wartebereiche waren abgesteckt wie beim Skilift, wo man immer noch ein paarmal um die Kurve gemusst hatte, mit den schweren Skistiefeln ungeduldig rasselnd. Vor der Halle wuselte und wirbelte das Leben, laute glückliche Aufgeregte mit Terminzetteln in der Hand, von bulligen Securitymännern liebevoll in die richtige Richtung geschubst, waren zu allem bereit, fühlten sich erwählt, privilegiert, wenn auch ein klein wenig ängstlich. Köstlich war die allen Verboten zum Trotz vor der Halle aufgestellte Kaffee- und Franzbrötchenbude, die suggerierte, das Leben lasse sich nicht unterkriegen, die Bude stand da wie ein Löwenzahn-Stengel im Beton. Als gäbe es keine Abstandsregeln waren die Menschen zum Impfen geströmt, sie hatten das Strömen wiederentdeckt und übten es mit Freude, bevor die sanfte Kanalisierung sie ergriff. Wenn sie aus der Halle wieder ans Licht traten, sahen aus, als hätten sie etwas Großes geschafft oder wären von einer großen Last vorläufig befreit worden.
Später, wie gesagt, verlor der Vorgang seinen festlichen Charakter, wurde etwas zwischen Zahnreinigung und Steuererklärung: nützlich, unspektakulär, etwas, an das man erinnert werden musste und das sich in Containern oder aufgegebenen Ladengeschäften vollzog.
Denn unsere Aufmerksamkeit war schon auf anderes gerichtet, auf eine Zukunft, in die man nur mit halb zugekniffenen Augen zu sehen wagte und für die es noch kein Gegenmittel gab.
Susanne Neuffer
Die Lust am Land
Nein, das ist kein Buchbesprecherinnenblog. Hier geht es um unsere eigenen Texte, frisch oder gut eingelagert aus der eigenen Werkstatt.
Aber das lässt mir nun doch keine Ruhe: Nach dem (ersten) Coronajahr habe ich also zwei neue Bücher auf dem Tisch (bzw. Sofa), in denen die Protagonistin aufs Land geht, sich irgendwie integrieren will/muss und sehr spezielle Erfahrungen macht, was Fremdheit, Freundschaft, Nähe angeht.
Kann man die beiden Bücher - Daheim von Judith Hermann und Über Menschen von Juli Zeh vergleichen? Nordfriesland (?) und Brandenburg, dünnes Buch und dickes Buch? Äpfel und Birnen?
Nach den ersten hundert Zeiten von Juli Zehs Über Menschen habe ich fast schon genug. Alles wird mir erklärt, alles wird referiert, was ohnehin schon durch die Feuilletons wabert: Klima, Corona, Berliner Lebensstil, AFD und die gängigen Meinungsäußerungen dazu. Auch wird von Anfang an verraten, was Expartner Robert, der Klimakontrollfreak, alles falsch macht und wie verunsichert Dora, die Zweifelnde, ist.
Originalton Juli Zeh:
Schließlich mangelt es ihr nicht an Überzeugung. Natürlich hält sie den Klimawandel für ein schwerwiegendes Problem. Was sie lähmt, ist die Ansprache „How dare you“ statt „I have a dream“. Statt über Temperaturziele zu streiten, sollte man sich ihrer Meinung nach lieber auf das Wesentliche konzentrieren – das Ende des fossilen Zeitalters, welches sich nicht erreichen lässt, indem man die Bürger besser erzieht, sondern nur durch einen Umbau von Infrastruktur, Mobilität und Industrie. (S.21)
Die Perspektive ist so bei der Protagonistin angesiedelt, dass wir uns schnell auf der Seite Doras wiederfinden und uns Mühe geben müssen, ihre Querdenker-Spielchen nicht allzu nah an uns heranzulassen. Dora zieht aufs Land und arrangiert sich mit Dorf und Natur, ihre politische Haltung verrutscht und löst sich vor unseren Augen auf. Über den Gartenzaun, hinter dem ein im Grunde liebebedürftiger weil todkranker Nazi hockt, winkt Monika Maron. Rettungsphantasien in alle Richtungen sind möglich.
Was will uns das Buch auf seinen vielen Seiten sagen? Dass alles nicht so schlimm ist?
Bis auf die Vorträge in Schriftform über alles und jedes (Eichelhäher, Coronamaßnahmen und ihre politischen Implikationen, Einkaufszentren), die den Roman unnötig aufblähen, ist das Erzählte allerdings als Versuch über die Realität interessant genug um doch zu Ende gelesen zu werden. Vor allem Doras Gedankenexperimente sind in dieser Explizitheit originell:
Das ist so verdammt anstrengend. Wie viel einfacher wäre es, eine Seite zu wählen. Mit Robert hat das nicht geklappt. Vielleicht wäre es bei der Gegenmannschaft leichter. (…) Vielleicht gibt es Thor-Steinar-Pullis inzwischen in der Non-Food-Abteilung von REWE (S.296).
Ich frage mich nur, warum in der Literatur die Bewohner ländlicher Siedlungen immer so besonders schrullig und schräg sein müssen. Das schreibe ich gerade in einem 50-Seelen-Dorf. Die Leute hier sind nicht schrulliger als mein Umfeld in der Stadt, sie haben nur ein paar andere Gewohnheiten und Feste: stellen einen Altar auf die Dorfkreuzung, können bei Bedarf lateinisch singen, im Nachbardorf neigt man zu Basaltskulpturen im Vorgarten. Aber sonst? Man sieht sie öfter, länger, genauer als die städtischen Nachbarn, vielleicht deshalb? Was das Problem mit den Busverbindungen auf dem Land angeht – da hat sie allerdings Recht, und wie!
Ja und nun Judith Hermann? Ein schmales, knapp und filmisch erzähltes ruhiges Buch ohne Klischees. Auch hier gibt es für die Protagonistin etwas zu begreifen, mit aller Vorsicht entstehen Freundschaften und Beziehungen. Auch hier erschrickt man mit der Hauptfigur zunächst über die Nachbarschaft, die das Ende der Stille bedeuten könnte, aber dann auch das Ende der Einsamkeit bedeutet. Ruhige Sprache, deutliche Bilder:
Die Nacht ist warm, im Ort sind die Straßenlaternen schon ausgegangen, alle schlafen, und der Himmel ist hoch und voller Sterne. Ich gehe aus dem Dorf raus und die dunkle Landstraße lang, die vereinzelten Höfe liegen schwer in der Ebene. Diese Welt ist meine Welt, weil ich gerade hier bin, das ist alles – vielleicht würde ich meinem Bruder diese Antwort geben wollen. (S.88)
Renate Langgemach (die auch auf dem Land lebt) meinte dazu: „Gut, dass jemand wie Judith Hermann so anders eigene, besondere, auf ihre Weise um ein Leben kämpfende Menschen beschrieben hat, die Profil zeigen, auch kühl, verschlossen sind, aber es schwingt etwas mit in der Verbindung von Menschen und Landschaft, das sie mir nahe bringt.“
Judith Hermann hat einen schönen Roman geschrieben, Juli Zeh die umfangreiche Vorlage für eine Serie (natürlich mit Charly Hübner – oder wer soll den todtraurigen Nazi spielen?). Ein gutes Team von Drehbuchschreibern wird schon was daraus machen.
Was wohl Dörte Hansen („Altes Land“, „Mittagsstunde“) denkt, wenn sie beide Bücher liest?