Renate Langgemach
liebäugelt mit dem Untergang:

Auf hoher See

Den Titel übrigens hat sie sich beim absurden Theater von
Slawomir Mrozek ausgeliehen.

Auch die Großen, Majestätischen, können wie eine Nussschale sinken, in die das Wasser einläuft, während man nach Backbord strauchelt um es auszuschöpfen. Durch diese Bewegung schluckt das Boot noch einmal kräftig und taumelt in die Tiefe. Wenn man Glück hat, erwischt man ein Ruder oder die mit Kork ausgeschlagene Vorratskiste und hält sich über Wasser, bis man gerettet ist.
Als die Meldung kam, hatte der Kapitän die Eisnadel schon gesichtet. Sie schwankte über der Wasseroberfläche, störendes Objekt in voller Fahrt voraus. Es war Nachmittag, eine Ansammlung von Abenteurern mit Anspruch auf die Geborgenheit einer Wiege lagen an Deck, ihre Füße in Tücher gewickelt.
Die Nadel am Horizont bedeutete, dass er vor die Öffentlichkeit treten und über Schwachstellen einer Stahlkonstruktion beim Aufprall auf Eisriesen hinwegtäuschen musste. Auf Luxuslinern erwartet man den Kapitän persönlich, sein Anblick erhöht Laune und Lebensgefühl, Erstkontakt über Mikrofon, legte er sich zurecht, dann Uniform und unter die Menschen, falls noch erforderlich.
Richard, französisch ausgesprochen, Barkeeper und Animateur, hatte bereits vor dem Kapitän die Unruhe und deren Ursache ausgemacht, die sich an Deck ausbreitete wie in einem Insektenschwarm, dessen aufflatternde Ränder Unheil ankünden. Er bestellte in der Schiffsküche das für Sonderfälle bereitstehende Büffet, das Insekten befriedete, orderte den Geiger aus der Mittagsruhe und mixte in aller Eile den 'eiskalten Traum', eine Schöpfung aus Sahne und weißem Likör, während der Kapitän über Lautsprecher weiterhin angenehmen Verlauf der Reise wünschte, auf Sonne und das ruhige Gewebe des Wassers verwies, oh Seemannsglück, und auf den Eisstift Steuerbord voraus, der von den Wundern der Nordmeere kündete.

Die Passagiere wussten spätestens seit der Titanic, dass glänzende Kristalle, die aus dem Wasser ragen, sich unter seiner Oberfläche ausdehnen und selten ungehindertes Vorbeikommen garantieren. Sie beruhigten sich ob des gravitätischen Himmels, der Größe des Schiffes, der Kapitänsworte aus dem Off, der Freundlichkeit des Geigers und Richards, der mit Likörbechern und bezaubernden Kuchen aus der Bordküche kam.
Links von mir lag Holly. Sie war Finanzbeamtin. Schlussendprüferin in Zimmern ohne Publikumsverkehr. Ich assoziierte ihren Beruf mit Zwickelschnüffeln und gut bezahltem Voyeurismus. Mir war unbegreiflich, wozu außer Arbeitsbeschaffung es dienen konnte, Belege für Briefmarken, Anzahl verschriebener Tintenpatronen, Pflanzen für die Grundstückseinfriedung des vermieteten Objektes ja, zur Verschönerung des durch Mieter genutzten Gartens nein, Stück für Stück durchzublättern.
Ihr Leiden, von dem sie sich auf dem Schiff erholen wollte, war die völlige Versteifung des rechten Unterarmes. Schreibkrampf. Gefahr der Berufsunfähigkeit. Gegenzeichnen von Akten, was einen Teil ihrer Tätigkeit ausmachte und als unabdingbar galt, war unmöglich geworden. Je öfter sie für diese Amtshandlung ihre linke Hand einsetzte, machte die sich ebenso mit Lähmungserscheinungen bemerkbar. Holly hing an ihrem Beruf wie ein Dorsch an der Leine. Er zappelt. Das bereitete Schmerzen. Aber er kam nicht los.
Ihre Leidenschaft waren Teddys, selbst gemacht aus Fellen, Filz und Frottee. Sie hatte ihren Teddykoffer dabei, Stoffe, Garne, Glasaugen, zwei Exemplare einer Zeitschrift für Teddy-Amateure und ein Überzeugungsvermögen, das sogar Olaf und den Maschinisten an Deck lockte, um sich einen Kuscheltröster zu basteln.

Rechts von mir lag Margarete. Sie war Lehrerin und meinte ständig, zur Hilfe aufgerufen zu sein. Sie fragte, ob alle an Bord wohlauf wären und wie man zum Abweichen der Fahrtrichtung beitragen könnte, was im Angesicht des Eisgipfels sinnvoll erschien. Gewissheit über die anstehende Kursänderung verschaffte sie sich nicht, aß Schokolade, lächelte und sagte, es gehe ihr gut.
Sie sagte auch, dass sie sich mit ihrem Mann ausgezeichnet verstünde, obwohl alle, die genau hinhörten, wussten, wie sehr sie seine Zuneigung vermisste, dass sie ihre Jungs über alles liebte (zwei Burschen, die die Mutter schamlos ausnutzten) und gern jede Anstrengung für die beiden auf sich nahm. Ihre Familie hätte ihr die Reise als Ausgleich für ihren Einsatz gegönnt.
Seit kurzer Zeit besaß sie ein Teddytuch und einen Bärenbeutel für das Handy. Sie half Holly beim Nähen der Tiere und brachte eigne Ideen ein. Wenn Holly nein dazu sagte, verstand sie das sofort und besorgte Kaffee für alle.
Ein unerklärlicher Schwindel kam ihr dabei in die Quere. Sie hätte ihn gern auf das Schlingern des Schiffes geschoben, aber sie kannte ihn schon länger. Manchmal erfasste er sie im Unterricht, manchmal im Auto, eine Unzuverlässigkeit ihres Körpers, die nicht nur sie, sondern auch ihre Umwelt gefährdete. Ansonsten ging es ihr gut.

In den unteren Etagen des Schiffes, in denen vor den Bullaugen das Wasser seinen Schlund öffnete und mit schaumigen Lippen schloss, stampften die Maschinen ihren unbeugsamen Takt. Das Schiff bewegte sich voran wie Mutter Erde, die alles bietet, was sie zu bieten hat, ungerührt von den Ängsten ihrer Bewohner, denn sie selbst ist unkündbar. Es schob sich geradewegs auf den Eiszapfen zu. Doch es kam kein Befehl.
Der Mann, der die Maschinen kannte wie seine Hosentaschen und geborgener bei ihnen schlief als bei seiner Frau, der die Presslufthämmer putzte, seinen Lebenssaft aus ihnen sog wie andere aus Flaschen, zerrieb sich die Hände an den Nähten seines Overalls, stampfender Puls, stampfendes Hirn, wann endlich kam die Anweisung, den Hebel umzulegen, letzte Rettung vor dem Maßnehmen zweier Giganten, Eisberg und Schiff. Er wimmerte, schlug mit den Fäusten um sich, warf sich auf die Schiffsplanken - und tat ihn nicht, den einzigen Griff, denn es kam kein Befehl.
Unterdessen stand der Kapitän vor dem Spiegel, seine Uniform saß ausgezeichnet, die Knöpfe glänzten, der Tequila tat gut. Er wusste, dass es an Bord aus Effektivitätsgründen keinen Steuermann gab. Nur den Maschinisten gab es und einen Ingenieur in Personalunion mit dem Schiffskoch, der Olaf hieß, und den sie Mombasa nannten. Mehr als um seine technischen Aufgaben kümmerte er sich um die Vorräte in der Kühlkammer. Auf Richard hingegen, den stets funktionierenden Kulturattaché, und auf den Geiger war Verlass.
Kein Problem, meine Damen, würde er sagen, er, der Kapitän, wenn er gleich an Deck käme, genießen Sie den Anblick des Eisbergs, wir haben alles im Griff. Und er würde lächeln bei seiner galanten Untertreibung.

Holly lief zwischen den Deckstühlen hin und her, zitierte Käp'tn Providence, die eine Frau war und sich auf der 'Sheba Queen' durchzusetzen wusste, während man hier zum tatenlosen Zuschauen verurteilt war. "Wie lange soll das noch dauern?! Man muss etwas tun!"
Margarete drückte Holly auf die Liege zurück. "Reg' dich nicht auf! Wir sind in guten Händen!" Sie bot an, von Störtebeker und den Vitalienbrüdern vorzulesen, beispielhaften Kämpfern auf hoher See. Nebenher entwickelte sie die Idee, Lämmer zu produzieren. Lämmer und Bären, wie goldig.
Holly tobte: "Statt Bären brauchen wir eine Seekarte! Ein Echolot!"
"Meine Damen!", lächelte der Kapitän, "belasten Sie sich nicht mit solchen Dingen. Wir sind Herr der Lage!" Er strich sich über Kinn und Knöpfe, vermied den Blick in Hollys Augen und über den Bug, schritt die aufgescheuchten Passagiersreihen ab, lud zu einem Candlelight-Dinner, freute sich an der Musik.
Der Geiger holte aus. Spielte eine träumerische Variation von 'The boat goes to the bottom', gestaltete sie wie ein Kinderlied, bei dem man Strophe für Strophe etwas weglassen muss, das sozusagen taktvoll ab-bricht.
Beim Verteilen der Gläser überlegte Richard, wie lange der Alkoholvorrat an Bord noch reichte - und er dachte an Hartmut, dessen Küsse auf einem Donau-Dampfer, im Schwarzen Theater in Prag, bei Karel Ubu, Mrozek und Hrabal. Weil Hartmuts Ohren schmutzig gewesen waren und Richard keinen Schmutz in Ohren mochte, hatten sie nur einmal beieinander gelegen. Danach bekam Richard jeden Abend eine Schachtel mit Streichhölzern geschenkt, auf denen 'Zünder' stand und in der Papierschnipsel zum Puzzeln lagen, die er nie zusammengefügt hat. Das bedauerte er jetzt.
Währenddessen strebte der Dampfer der Eisspitze entgegen. Zielgenau. Rücksichtslos. In voller Fahrt. Und wir waren die Eingeschlossenen auf hoher See, wo einer abgehen, niemals aber einer hinzukommen kann.

Mombasa vertraute mir an, dass er eine Ration Käse aus dem Kühlraum für sich entnommen hatte. Ich diente als Beichtmutter, da ich neidlos war und sich jedes Extrastück Nahrung in dem Bretterverschlag unter meinem Twiggy-Busen abzeichnen würde wie ein Bauklotz.
Im Gegenzug erzählte ich ihm, wie meine Zeit als Hungerkünstlerin angefangen hatte. Ich lag mit Scharlach hinter der Scheibe, meine Mutter stand auf der anderen Seite der Isolierstation und hielt eine Puppe hoch. Ich weinte, und eh die Puppe durch die Sterilschleuse des Krankenhauses zu mir gelangt war, war die Mutter weg. Weil ich weiter schrie, stopfte man mir den Mund mit Graupensuppe. Die war eklig. Ich hamsterte sie in Mund und Vorbauch, bis ich aufs Klo konnte und alles wieder rauswürgen.
Er sagte, dass er das Gefühl hinter Sperrscheiben kannte. Quittegelb war er gewesen, Isolierhaft an einundzwanzig Tagen, seine Frau am Telefon hinter Glas, sie auf der Seite der Gesunden, er auf der Seite der Befallenen.
Ihr zu Liebe habe er eine Firma aufgebaut, Niederlassung in Kenia, hin und her sei er gereist zwischen Hamburg und Mombasa, alles für seine Frau. Dann die Gelbsucht, das hielt sie nicht aus, nahm sich einen Liebhaber und Olaf setzte Fett an.
Ich kenne dieses Gefühl wohl nicht, hat er zu mir gesagt, dass alles um mich herum zu eng sei. Ich kannte es doch und wir freuten uns an der Tatsache, wie gleich und wie gegensätzlich wir waren, dick und dünn einem Luxusdampfer ausgeliefert. Wegen seiner Frau erklärte ich ihm den Zusammenhang zwischen Jemandem-Etwas-Zu-Liebe-Tun, dabei langfristig dessen Achtung und gleichzeitig seine Selbstachtung zu verlieren. Er verstand, dankte mir und schlug vor, in seine Kabine zu gehen.

Holly war sofort eifersüchtig, als sie ein Strahlen und eine Ruhe auf meinem Gesicht entdeckte, die ich aus den Tiefen des Schiffsrumpfes mitbrachte. Im Anblick der Katastrophe. Sie mochte Richard. Hatte mit den Mitteln ihrer Teddykampagne versucht, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Hätte ihn in diesen Momenten, in denen man nicht wusste, ob man noch einmal einen Menschen würde umarmen können, so dringend gebraucht. Aber es war kein Herankommen an ihn.
Weil wir uns in einer Art Endzeitstimmung befanden, die an die schmerzhaftesten Lebenserfahrungen rührte und weil ich selbst gerade Erfolg damit gehabt hatte, schlug ich ihr vor, es mit Krankengeschichten zu versuchen.
Sie prüfte Kosten- und Nutzenausgleich und kam zu dem für sie geeigneten Ergebnis: Vor kurzem war sie wegen ihres Armes in der Psychosomatischen gewesen, Abteilung für Leute mit handfestem Symptom ohne Diagnose.
Über dem Esstisch der Station hatte ein Bild der Arche Noah gehangen. Damit fing sie an. Dass sie das in Blau gehaltene Gemälde durch Aufheften von Teddyfotos verschönert und sich dabei gefragt hätte, für wen von ihnen die Vorzugsplätze auf der Urzeitbark wohl vorgesehen wären.
Margarete und ich grinsten. Dankbar für den Stoff, der vergessen ließ, während die Wellen klatschten. Holly kam in Fahrt. "In der dritten Woche war das Gruppenthema: einer muss vom Boot. Einen müsst ihr ausfindig machen. Weil es sonst untergehen würde."
Während Holly erzählte, kreuzte Richard mit seinem Tablett durch die Damen. Ihr Thema berührte ihn, den Outlaw, den Geopferten, der er schon als Kind gewesen war.
"Das machen wir nicht. Auch nicht im Spiel!", rekapitulierte Holly die Gruppen-Szene. Dabei Richard im Blick und die Zeit, die ihr nach Navigationskausalitäten noch blieb. "Das Unbehagen schnürte unsere Kehlen zu. Denn einem Teil in uns ist es gleichgültig, ob die Lage echt ist oder simuliert." Das aus Hollys Mund.
Gegen seine Gewohnheit und seinen Auftrag, die Gesellschaft bei Laune zu halten, setzte sich Richard zu Holly. Er hatte etwas von Hetzjagd und der Unausweichlichkeit, die es den treffen ließ, der es am meisten fürchtet, gehört. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen, wie schnell er, der Ausgesetzte, opferbereit war, und wie schnell er etwas an anderen auszusetzen hatte, ach Hartmut. Noch bevor Holly ihren Abschluss-Gag loswerden konnte, hielt Richard ihre Hand und nahm sein Taschentuch, um sich von einer Art Untergrundschmerz zu befreien. Nichts mehr hielt Holly davon ab, ihrerseits nach einem Taschentuch zu angeln. Sie schüttelte es auf, breitete ihre Arme um Richard und weinte mit.

Da rührte sich das Tier in der Tiefe des Meeres, hob zur Probe seinen Buckel, setzte wie ein erstes Kosen einen Kratzer in den Rumpf des Schiffes - und ließ es wieder abgleiten.
Margarete bekam sofort einen Schwindelanfall. In den Sekunden, in denen sie zwischendurch bei Bewusstsein war, fingerte sie ihr Mobiles aus dem Teddy, erwischte ein Netz und rief zu Hause an. Sie sprach auf den Anrufbeantworter. "Benny, Michael, Schatz! Mir geht es gut! Wir passieren gerade die Eisberge! Ich liebe euch!" Die lauernde Gefahr versank in ihrem Schwindel und der gestörten drahtlosen Verbindung.
Der Maschinist litt. Er hatte alles gegeben. Er hatte jede Schraube einwandfrei gesetzt. Jeder Kolben, jedes Zahnrad, jedes Zugseil war in Ordnung. Er klammerte sich an die dampfenden Messingrohre. Marterte sich in der Schuld, binnen Kurzem nicht nur sein, sondern auch das Leben anderer auf dem Gewissen zu haben.
Der Kummer, diese nie zu lösende Frage, warum ein gutmütiger Mann, der geduldig auf den Befehl wartet, so gestraft wird, bohrte sich in seinen Körper - und er fällte einen Entschluss. Er wusch sich, befreite seine Nägel von Ölrändern, holte seinen Anzug aus dem Schapp, er hatte Margarete von Anfang an gemocht.
Als sie wieder zu sich kam, ruhten die liebevollen Augen des Maschinisten auf ihr. Mit einer Stimme, in der jede Aufmerksamkeit für sie bereit lag, beugte er sich über sie und sprach die Worte des Herzens.
Der unterirdische Bulle stob. Das Gestühl auf dem Panoramadeck rutschte von einer Seite zur anderen. Holly hatte längst den Teddykoffer aus der Kabine geholt, sich eine Schwimmweste umgebunden, ihren Lieblingsteddy im Gürtel befestigt. Sie notierte im Inneren Sonnenstand, Windrichtung, Höhe und Anzahl der Eisbergkuppen, und in einer Art Selbstverstärkung die Ausgaben für die gratis vergebenen Getränke, ob als Werbungskosten anzuerkennen oder nicht wäre zu prüfen. Richard hielt sie am Arm, sie würde ihn mitziehen, an ihr Ufer ziehen, das würde sie schaffen, seine Wärme spürte sie schon. Margarete und der Maschinist klammerten sich aneinander, ein süßes Paar, dem es in diesem Moment wirklich gut ging, und der Bordingenieur stand kopfhoch an meiner Seite, er war meine ganze Rettung.

Das dritte Zittern des Rumpfes legte einen Moment der Stille auf die Menschen an Deck. Der Kapitän erschien in großer Uniform, korrekt, die Hand zum Gruß am Mützenschirm. Er stellte sich seinem Volk, diesen Männern und Frauen, die sich ihm für eine sonnige Kreuzfahrt überantwortet hatten, die dem Nordmeer das Diamantenstrahlen und dem Südmeer Haifische aus sicherer Entfernung abgewinnen wollten, den Insassen seiner Arche Noah, und er teilte ihnen mit, dass man, obwohl man alles Erdenkliche getan habe, den Kurs des Schiffes nicht rechtzeitig hat ändern können. Alle ihm Anvertrauten, das versicherte er, und er dankte noch einmal, dass sie die Fahrt mit ihm und seiner Gesellschaft unternommen hatten, würden in gut gepolsterten Rettungsschiffen den Weg an Land finden, wenn sie sich besonnen verhielten. Er selbst jedoch, wie es einem Kapitän gebühre, würde auf der Kommandobrücke zur Wache bereitstehen und sein Schiff auf dem Weg ins Ungewisse begleiten, tragischer Zeuge einer Reise, die doch so glückhaft begann. Dem Geiger rutschte ein tiefgründiges C aus den Saiten.
Da warf der Maschinist seine Margarete über die Reling, bevor sie sich noch wehren konnte, warf zwei Ringe hinterher und sprang in das kalte Wasser. Der unterirdische Bulle hebelte das Schiff auf seinen Rücken, rollte es über seinen Lenden ab und hinterließ einen Riss in der Seite des Gegners. Das Wasser, dieses weicheste und gleichzeitig gewaltigste Element, gierte nach Höhlen, die es füllen konnte. Holly schrie auf, als sie feststellte, dass die Rettungsboote, diese Schmuckstücke an Bord, die zu allerlei Träumereien hergehalten hatten, so fest angekettet waren, dass es kein Herankommen gab. Sie riss sich den dritten Ring aus dem Halter, streifte ihn über den Leib wie eine Krinoline, sprang mit dem Teddykoffer ins Wasser, Richard folgte sofort. Ich zog den Ingenieur in das Nass und den Geiger hinterher.
Richard bemerkte, dass das Meer ihm gut tat. Holly an seiner Seite kam beruhigend hinzu. Margarete und der Maschinist hielten ihre Hände über den Rettungsringen und Mombasa hatte mir im Fallen versprochen, dass er mit dem Abnehmen beginnen würde. Wenn es nicht so kalt gewesen wäre, sagte der Geiger, hätte er gerne gelacht. Schon der Impuls dazu brachten die Ringe, auf denen wir saßen, ins Schaukeln. Dabei sprang Hollys Koffer auf, die Teddys ploppten hervor wie Gummibärchen.
Bei diesem Anblick konnte Holly nicht mehr an sich halten. Sie lachte los und fühlte sich so frei wie lange nicht. Sie hätte strampeln, sich tummeln mögen wie ein Fisch, denn gefangen bist du auf einem Schiff, kannst dich zwar darauf- aber nicht wegbewegen, bist angewiesen auf das, was andere zu tun oder zu lassen gewillt sind. Sie schubste dem Teddyschwarm, den die Strömung des taumelnden Schiffes ansog, ein paar Wellen hinterher.
Nach Hollys Maßgabe begann die kleine Mannschaft mit Stoffresten, Krawatte und Hemdsärmeln ihre Ringe zu einer Insel zusammenzubinden. Aus Kofferteilen und anderem Material ergaben sich Ruder, der Geiger gab sein Instrument als Nebelhorn und SOS-Sender frei und alle versicherten dem Maschinisten, der ja voran gesprungen war, wie froh sie sich schätzten hier zu sein, der Aufprall vom steilragenden Bord auf das Wasser wäre inzwischen viel schmerzhafter gewesen.

Der Kapitän bewunderte die Bungeespringer ohne Rückholfaden und deren Wahnsinn, den Weg zur Erde durch den Himmel anzutreten. Wäre er mutiger gewesen, wäre auch er gesprungen. Aber diese Möglichkeit schied für ihn aus, da sein Vater die Gewohnheit hatte ihn bei widrigem Willen wie eine Katze kopfüber aus dem Fenster zu halten.
Zwei Dinge hatte der Kapitän dabei gelernt: Die Angst vor dem Fall - und sich dem Vater bedingungslos zu fügen. Er wurde erfolgreich in gehobener Stellung. Den Sprung über Bord, diese Sekundenbruchteile im freien Fall, erklärte er sich als würdelos. Er nahm Position vor dem Wasser, das ihm bis zum Halse stand.

Ein Ruck ging durch das Schiff, das tausendmal als unsinkbar erklärt worden war. Es musste sich widersetzen. Es musste bersten. Allein schon, um sich selbst als Schiff gerecht zu werden. Dann brach der Riese zusammen, dieser glücklose Havarist. Bevor er in den Meeren verendete, schwankte sein Heck einen Moment lang über dem Floß und den Punkten da unten, die winzig und hoffnungsversunken an den Überbleibseln einer unübertroffenen Welt arbeiteten.