Susanne Neuffer
Als es vorbei war 8

...wurde es zu einer Gewohnheit, halbjährlich zum Impfen zu gehen, denn die Verantwortlichen sagten, es sei nie vorbei und zitierten dann den letzten Satz von Camus „Pest“. Wir erhielten die Benachrichtigung, seufzten über den unpassenden Termin, buchten um oder auch nicht, gingen hin, bekamen die Impfung, ließen sie auf dem Gerät oder dem Kärtchen speichern. Einige Unbelehrbare kamen immer noch mit ihrem abgegriffenen gelben Heftchen daher und zwangen das junge Impfpersonal zu peniblen Einträgen per Hand, was dieser Generation offenbar schwer fiel. Allein wie sie den Stift hielten! Aber umso gewandter drückten sie uns das Serum in den Oberarm, manchmal auch in den Schenkel, denn allmählich sahen wir alle so aus wie früher die Abhängigen und brauchten neue Einstichstellen. Nun, Abhängige, das waren wir ja auch, wir würden ja sterben ohne das halbjährliche Ritual. Manchmal irritierte ein neuer Name in der Rubrik, die den Impfstoff anzeigte, ach ja, eine neue Mutante war auf ihrem Ritt durch die Länder und blies ihren heimtückischen Atem in unsere Fenster und Lüftungsschächte.

Weißt du noch, sagte ich zu mir (man sprach noch immer in dieser Form mit sich selber, eine Gewohnheit, die sich erhalten hatte): Weißt du noch die allererste Impfung? Das große Impfzentrum mit den vielen Weißgekleideten? Die langen Wartebereiche waren abgesteckt wie beim Skilift, wo man immer noch ein paarmal um die Kurve gemusst hatte, mit den schweren Skistiefeln ungeduldig rasselnd. Vor der Halle wuselte und wirbelte das Leben, laute glückliche Aufgeregte mit Terminzetteln in der Hand, von bulligen Securitymännern liebevoll in die richtige Richtung geschubst, waren zu allem bereit, fühlten sich erwählt, privilegiert, wenn auch ein klein wenig ängstlich. Köstlich war die allen Verboten zum Trotz vor der Halle aufgestellte Kaffee- und Franzbrötchenbude, die suggerierte, das Leben lasse sich nicht unterkriegen, die Bude stand da wie ein Löwenzahn-Stengel im Beton. Als gäbe es keine Abstandsregeln waren die Menschen zum Impfen geströmt, sie hatten das Strömen wiederentdeckt und übten es mit Freude, bevor die sanfte Kanalisierung sie ergriff. Wenn sie aus der Halle wieder ans Licht traten, sahen aus, als hätten sie etwas Großes geschafft oder wären von einer großen Last vorläufig befreit worden.

Später, wie gesagt, verlor der Vorgang seinen festlichen Charakter, wurde etwas zwischen Zahnreinigung und Steuererklärung: nützlich, unspektakulär, etwas, an das man erinnert werden musste und das sich in Containern oder aufgegebenen Ladengeschäften vollzog.

Denn unsere Aufmerksamkeit war schon auf anderes gerichtet, auf eine Zukunft, in die man nur mit halb zugekniffenen Augen zu sehen wagte und für die es noch kein Gegenmittel gab.