Sankt Pauli des Nachts

Sie liest im zweiten Stock
die Apostelgeschichte
und blaue Lichtblitze
zucken über die Seiten

Da steht nichts von einem Pferd aber
wie weit
re er gekommen
ohne Pferd?

Noch dazu auf dieser Straße
wo alle Seile
an ihm ziehen?

So aber
unverführt
erleuchtet
rappelt er sich auf
steigt auf den Bock
startet durch

Im zweiten Stock
schließt sie das Buch
und strapst
die Strümpfe
fest

 

Städtischer Trostvogel

Von meinem Tisch
wo sich wenig tut
schaue ich auf Vorstadtdächer
(verschlissenes Dachziegelrot,
versuchsweise Moos)
da segelt
einer der keine Taube
und keine Krähe ist
links vom Nachbarhaus
sanft und großtig
mit den Flügeln schlagend
Richtung Zentrum

Muss ich seinen Namen wissen?
Er weiß ihn doch auch nicht
und kann trotzdem
über Mauern fliegen

Lyrik:
Susanne Neuffer

 

Da sind wir wieder.

Nach der ersten Ausgabe unseres Blogs textX3.de Anfang April haben wir stilvoll-distanziert gefeiert, an der Elbe mit Außengastronomie aus dem Rucksack und uns über die Rückmeldungen gefreut. Wir fühlen uns einigermaßen bestärkt darin, unseren Blog fortzusetzen, der zugleich Werkstatt und Werkstattbericht ist.

Diesmal erzählen wir von Hamburger Stadtteilen, die uns nahe liegen (zu Fuß zu erreichen), so wie sie waren und wie sie in der Welt der Geschichten immer noch sind: voller Lärm, Geschubse, Neugier und Nervensägen.

Marita Lamparter nimmt Ottensen unter die Lupe wie es leibt und lebt: Auf dem Biomarkt.
Renate Langgemachs St.Pauli - Geschichte heißt Jerry kurzes Kichern.
Und bei Gudrun Hammer gibt es Keine Einkehr.
Susanne Neuffer hat zum Thema eine lyrische Randbemerkung: Sankt Pauli des Nachts.

Anschließend diskutieren wir über das Verfertigen literarischer Figuren zwischen Realitätsbeobachtung, peinlichen Wahrheiten und schamlos kreativen Lügen.

Nach unseren geräuschvollen, erstaunlich effektiven und amüsanten Videokonferenzen freuen wir uns zaghaft auf einen Präsenztermin im Literaturzentrum am 29.6.2021 um 19h30 - bitte nachprüfen, wie (fast) alles zur Zeit ohne Gewähr. Wir sind eingeladen, unseren Blog und Neues aus der Werkstatt live vorzustellen.

Am Schluss des Ganzen ein Blick in eine bildschirmbefreite Zukunft:
Als es vorbei war 7 von Susanne Neuffer.

Wir sind drei Autorinnen, manchmal vier:

© Carmen Oberst Marita Lamparter schaut sich die Menschen genau an.
Sie erzählt davon in Dorfgeschichten aus Westfalen
und Stadtgeschichten aus Ottensen.

Renate Langgemach
kann in ihren Romanen einen Hang
zu in Schieflage geratenen Verhältnissen nicht verbergen.

Susanne Neuffer
erzählt von Leuten, die sich und andere
gern täuschen und meist unruhig unterwegs sind.
© Frank Isheim Unsere Gastautorin für diese Ausgabe ist Gudrun Hammer, seit
Jahren treffen wir uns zu viert in unserer Literaturwerkstatt. Wir
stellen Texte vor, besprechen sie, organisieren gemeinsame Lesungen.
Gudrun liebt es klar und knapp, sie hat in unseren Texten reichlich
gekürzt (danke an dieser Stelle). Deshalb machen wir hier nur wenige
Worte: Gudrun Hammer, gute Geschichten, hier ist eine davon
aus dem St.Pauli-Buch. Lesen.

 

Marita Lamparter
Auf dem Biomarkt

Die Herbstsonne scheint auf den kleinen Marktplatz. Vor einiger Zeit wurden die alten Platanen gefällt und die Sonne stellt die Stümpfe bloß.
Clarissa ist spät dran, sie ist fast immer spät dran: Vor dem Gemüsestand steht schon eine Schlange. Eine junge Frau schiebt den Kinderwagen so energisch zur Seite, dass sie damit Clarissa über die Füße fährt. Sie entschuldigt sich nicht, hier haben junge Mütter mit Kinderwagen immer grünes Licht und Vorfahrt. Ottenser Gereiztheit liegt in der Luft. Vielleicht geht es am Backstand schneller. Vor ihr steht eine junge Frau mit ihrem kleinen Jungen. Er ist vielleicht fünf oder sechs Jahre alt und guckt freundlich.
Hast du schon ein Brötchen ausgesucht, Ben?“, fragt seine Mutter.
Ben schüttelt den Kopf.

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© Frank Isheim

Gudrun Hammer
Keine Einkehr

Die Kellnerin seufzt und lächelt. Als warte sie seit Stunden auf Bettina. Kommen Sie hinter den Tresen. Hier die Stufen runter.
Holztäfelung, gedämpftes Tageslicht durch Butzenscheiben, zwei lange Tafeln, eine unbenutzt. Die andere ein Trümmerfeld. Zusammengedrückte Bierdosen, Kippen rund um den Aschenbecher, ein umgekippter Kerzenleuchter, Bierflecken neben halb vollen Gläsern, leere Cognacschwenker.
Das sind die Herren.
Sie lächelt noch einmal, dieses Mal, als bitte sie Bettina um Verzeihung, und flieht nach oben.

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© Silke Goes

Renate Langgemach
Jerry kurzes Kichern

Wer geht schon gern auf die Reeperbahn außer den Unermüdlichen aus Essen oder Bottrop. An schwankenden Gestalten vorbei, Pisspfützen, spuckenden Youngsters und Gyrosgeruch, an Einladungen zum Sex unter Neongegröl und anzüglichen Blicken. Weggucken heißt es. Bloß nicht hingucken. Sonst könnte man angesprochen werden oder im schlimmsten Fall in eine Schlägerei verwickelt.

Weil Rita schon lange darauf bestand, mache ich heute eine Ausnahme. Sie sagt, die Reeperbahn ist der geschützteste Ort in ganz Hamburg, soviel Bullen wie da findest du nirgends, die Nutten machen noch den Mund auf, wenn was passiert und wenn ehrlich zugehauen werden muss, kommt einer, der es für dich tut. Hier brauchst du nicht schön sein. Hier läuft das Leben. Hier ist einer für den anderen da und 'n bisschen Dreck gehört dazu.

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Hier sitze ich und schaffe Menschen nach meinem Bilde oder:
Sympathische Ärsche im Figurentheater

Eigentlich gehören zu unseren Werkstattgesprächen ein großer Tisch, volle Gläser, etwas Essbares und ein einleitendes „Erzähl mal...“ . (Wer sich noch an „Sex and the City“ erinnert, kann sich die Szenerie vorstellen.) Nun aber zwingt uns ein digitales Meeting zu Stringenz und Aufmerksamkeit:

Was heißt hier schräg?

S: Reden wir also über die schrägen Figuren in euren Kurzgeschichten, die hier zu lesen sind.
M: Meine Figuren sind nicht schräg.
S: Woher nehmt ihr eure Figuren?
R: Jerry z.B. ist mir komplett fremd, der Indianer ist mir fremd, ihr Milieu ist mir fremd. Vermutlich habe ich einen Jerry-ähnlichen Typen beobachtet und in die 'Ritze' verfrachtet, dieses Lokal mit Boxring. Und der Indianer … jemand hat mir Tage zuvor eine Geschichte erzählt, die er am Straßenrand mitbekommen hat, die ist in Jerry kurzes Kichern eingeflossen, ein buntes Gemisch aus Beobachtungen, Erzähltem und kompletter Erfindung.
S: Ich dachte tatsächlich, das ist alles aus der Realität genommen. Und staune, dass es so zusammengebraut ist. Wie ist es bei dir, Marita? Und mit deinem Einwand: Meine Figuren sind nicht schräg.
M: Ich suche meine Figuren nicht nach schrägen Kriterien aus, sie sind richtig normal. Normaler geht’s nicht. Die Biomarktgeschichte entstand aus Beobachten und Erleben. Und einem starken Affekt wie Bewunderung oder auch Empörung: Was ist hier los? Was sind das für Leute? Ich verstehe sie nicht … ich hab die Geschichte mal jungen Müttern vorgelesen, die grüßen mich seitdem nicht mehr. Für sie war das nichts als Mütter-Bashing.
S: Und diese Junggesellen bei Gudrun, sind das auch ganz normale Leute? Ist die Geschichte tatsächlich so passiert?
G: Sie ist bis ins letzte real.
R: Aha, norddeutsche Realistin.
(Gelächter)
G: In anderen Kurzgeschichten erfinde ich durchaus Figuren, aber hier ist es in erschütternder Weise so, dass man die Realität einfach nicht toppen kann. Die sind stinknormal. Das sind Bankangestellte, die wohnen in Einfamilienhäusern, aber versetze sie auf die Reeperbahn und sie lassen die Sau raus. Auf St. Pauli müssen sie beweisen, wie wild sie sind, und dann sind sie beschreibenswert.
R: Ja, die schrägeren und heftigeren Figuren sind tatsächlich beschreibenswerter.

Facetten und Mixturen

S: Meine Figuren sind zum großen Teil erfunden, auch konstruiert, oft zusammengesetzt aus mehreren Menschen, als ob man von dem einen was nimmt und von dem anderen auch und diese Mixtur in eine Situation bringt, die ein Dritter erlebt hat. Es kommt sehr selten vor, dass ich jemanden abbilde. Bei Im Schuppen ein Mann habe ich wohl schon die Frau abgebildet, das war eine Realsituation, die Figuren musste ich innerlich wie äußerlich ausstatten und ein bisschen überzeichnen.
R. Ich finde den Aspekt der Mixtur ziemlich normal. In meinen Protagonisten kommen immer verschiedene Facetten von Menschen zusammen. Es wird ja oft die Frage gestellt, was real ist und was fiktiv, ich finde, das ist schwer trennbar, alles hat reale Facetten und ist als Ganzes dennoch fiktiv.

Ans Messer geliefert?

S: In den Geschichten kommen ja auch Figuren vor, die am Rand stehen, die nicht verwickelt sind. Die können das Verhalten der anderen sezieren. Da ist Autorenprogramm spürbar.
Joan Didion hat mal gesagt: Jeder Schriftsteller liefert Menschen ans Messer: Man beobachtet, man erzählt, entweder liefert man sich selbst ans Messer, soll auch schon vorgekommen sein, oder – normalerweise - andere.
Wenn das Messer zu scharf wird, wenn eine Geschichte als Racheakt gedacht war, wird sie nicht unbedingt gut. Im ersten Impuls sagt man: die blöde Person, der zeig ich es jetzt mal, meine Waffe ist das Schreiben. Aber wenn die Figur nicht vielfältiger ist als ihr reales Vorbild, dann wird es schlecht.
R. Dann ist sofort die Absicht spürbar.
G: Übrigens würde ich nicht unterschreiben, was Joan Didion sagt. Es gibt so viele gute Schriftsteller, die ihre Figuren mögen. Es ist zwar unschön, wenn eine Frau ihr Kind vor der Welt versteckt oder eine andere sich an ihren Freund klammert, obwohl sie ihn nicht liebt, zwei Beispiele aus meiner Kurzgeschichtensammlung Lieberkühn. Aber ich mag sie trotzdem und versuche so von ihnen zu erzählen, dass auch die Leser sich nicht kopfschüttelnd abwenden. Die Jungs in der Reeperbahngeschichte liefere ich ans Messer, das ist völlig klar, das ist ja eher reportageartig. Aber insgesamt bemühe ich mich, meine Figuren nicht preiszugeben.
R: Das ist Voraussetzung, finde ich. Wenn man schon Figuren aus dem realen Leben benutzt, dann nur mit Respekt.
M: Zum Beispiel meine Dorfgeschichten: Wenn ich über den untreuen Vater schreibe … ob das allen aus der Familie gefallen hat?
G: Also, wen die meisten Schriftsteller ans Messer liefern, das sind sie selbst.

Unerwartete Einsichten

R: Ja, man entdeckt Unerwartetes von sich in eigenen Texten: Ich staune manchmal, bin auch erschrocken, was ich da schreibe. Zum Beispiel, wenn Gewalt einen Platz in meinen Geschichten findet, mit Jerry und dem Indianer konnte ich gut ein paar gezielte Hiebe setzen … Papier und Bleistift sind ein wunderbares Transformationsmittel für verborgene Potentiale!
S: Stimmt. Beim Schreiben kann man manches über sich erfahren, nicht nur in der Ich-Erzählung. Als ich die Geschichte mit dem weißen Transporter geschrieben habe, konnte ich mich plötzlich in jemanden hineindenken, der am Steuer eines solchen Transporters sitzt und ausprobieren, was er fühlt, wenn er jetzt auf eine Menschenmenge zufährt … das geht, entweder hat man es in sich, eine Art atavistisches Wissen, oder man hat es aus den Medien oder sonstwoher, man kann in etwas rein, das einem angeblich fremd ist.
R: Dem Schauspieler ist es ja ebenso möglich, alles zu spielen, was ihm aufgetragen wird.

Männer, Frauen, Lügen

S: Wie ist es denn mit Männern und Frauen? Geht ihr davon aus, dass ihr wirklich in einen Männerkopf hineinkönnt? Gudrun hat ja männliche Helden …?
R: Ha! Bei einer Lesung wurde ich gefragt, wieso ich mir einen männlichen Protagonisten gewählt hätte, ob ich überhaupt in der Lage wäre, die Empfindungen eines Mannes nachzuvollziehen. Da habe ich zurückgefragt, wie viele männliche Schriftsteller schreiben über Frauen und ihnen werden nie diese Fragen gestellt?
M: In meinem Clarissa-Projekt gibt es die Figur des Peter. Ihm übertrage ich meine eigenen Kindheitserlebnisse, das ist für mich eine neue Erfahrung und ziemlich gut, da bin ich nicht mehr ganz so befangen.
S: Ich denke, das ist sowieso der Trick: man gibt jemand anderem ein Stück von der Geschichte und das befreit, setzt Distanz, aus der heraus man anders formulieren kann.
M: Dadurch, dass es ein männliches Kind ist, werden meine Kindergeschichten anders.
S: Man traut sich mehr, wenn man die Geschichte einem anderen unterschiebt, der ist böser, frecher, mutiger als man selber wäre. Man darf ja lügen, der Gewinn beim Schreiben ist dieses Lügen-Dürfen.
G: Schamlos lügen!
R: Natürlich habe ich begrenzte Vorstellungen vom Mann, aber auch ein Mann kann über Männer nur ein bestimmtes Vorstellungsspektrum abarbeiten, mit seinen Klischees herumwirtschaften. Man schreibt einfach über Menschen.
S: Aber was ist mit den Körpern? Wie ist ein Mann in seinem Körper? Da muss ich immer noch einen respektvollen Abstand halten
R: Das tut ja der Figur keinen Abbruch.

Bruno und andere Favoriten

S: Wie geht es eigentlich Bruno?
G: Bruno geht es nicht gut, der ist ganz kleinlaut und liegt in den Schubladen der Literaturagentinnen herum, die ihn ignorieren.
S: Ich erinnere mich, dass wir viel über Bruno geredet haben ….
G: Ja. Ihr wart nicht immer gütig zu ihm.
S. Mögt ihr eigentlich eure Hauptfiguren?
M: Ja.
G: Ich mag die alle.
R: Man kann seine Figuren schlecht ablehnen. Man kann über jemanden schreiben, den man unsympathisch findet … dennoch an dieser Figur gewinnen.
S: Habt ihr denn Lieblingsfiguren aus der Literatur?
Meine ist Harry Angsttröm, aus den Rabbit-Romanen von Updike. Auch die die Figuren von Genazino, eigentlich immer derselbe leicht verknautschte Typ, der durch ein verknautschtes Frankfurt geht und mit den Frauen und dem verpackten Mittagessen nicht zurechtkommt. Den mag ich, aber Harry Angström besonders.
M: Ich bin auch Fan von Harry Angström.
R.: Was ist denn an dem so toll?
M: Dass er eigentlich ein Arschloch ist. Trotzdem hat er so viel Menschliches. In seinem Scheitern, seiner Suche, seinen Ängsten. Was der alles falsch macht. Er heißt ja auch Angström. Der Angsthase, Rabbit.
S: Er ist widerlich. Und er ist alles, was man im Lauf von 40 Jahren amerikanischer Geschichte sein kann. Aber er lernt etwas. Ganz langsam. Über vier Bände begreift er was vom Leben.
M. Ja, es ist großartige Prosa übern Arsch.
R: Scheint ja ein sympathischer Widerling zu sein - und es wird liebevoll mit ihm umgegangen. Das ist eine gute Haltung des Schreibers. Mit der Lieblingsfigur identifiziert man sich, mag sie - und gerade, weil sie das ganze menschliche Spektrum abbildet.
Bei mir gibt es nur Beispiele aus Kinderbüchern. Kalle Blomquist und die rote Zora.
G: Bei mir ist das genauso wie mit Lieblingsmusik oder Lieblingsfilmen. Sowas hab ich nicht. Ich vergleiche schon, aber eine Figur, die sich mir mehr eingeprägt hat als viele andere, damit kann ich nicht dienen.

Figuren - Kreaturen?

G: Ich bin ja so dankbar, dass ihr nicht gesagt habt, dass eure Figuren sich verselbständigen.
S: Ein bisschen was ist aber schon dran: Ich erlebe, dass meine Figuren ohne Plan und gegen den Plan eine andere Richtung einschlagen, mutiger oder komischer oder anders werden.
G: Aber das macht nicht die Figur! Ich höre was in den Nachrichten, ich lese irgendwas, ich sehe einen Film: das sind alles Einflüsse, die ich aufsauge aus dem realen Leben, aber ich hab keine Pappkameraden neben mir sitzen, die sich was ausdenken, das bin ich.
R: Ich gehe schon mal mit meinen Figuren spazieren. Ich habe z.B. Paris mit den Augen Johan Jakobs aus Geh du nach Süden erlaufen.
M: Es war natürlich dein Blick auf die Stadt! Ich kenn das aber auch, dass ich vorhatte etwas in einer bestimmten Weise zu schreiben, und dann wird es ganz anders.
R: Da fließt etwas ein …
M. Das nicht so ganz unter Kontrolle ist...
S: The Flow?

Susanne Neuffer                                                                                                                                            (Credits to Gudrun Hammer)
Als es vorbei war 7

...war Flora (so erzählte sie mir) gut auf die Wiederkehr des Gewohnten vorbereitet: Sie hatte ihre Garderobe sorgfältig überprüft und teilweise erneuert, ein frühes Date beim Friseur erkämpft, ihr Fahrrad geputzt und eine Dauerkarte bei der Hochbahn geordert. Sie wollte keinesfalls Kalorien zählen oder besonders sparsam oder wählerisch sein, denn nun war ja die Zeit der lebendigen Treffen, der Cafébesuche und des Abhängens in kleinen Bars gekommen. Sie war bereit, den Menschen entschieden und vergnügt gegenüberzutreten.

Mit ihrer früheren Kollegin N. traf sie sich in einer Teestube in einem der Elbvororte. N. hatte viel zu erzählen, wobei erzählen vielleicht das falsche Wort war. Sie berichtete, klagte, lamentierte, sie musste Schreckliches erduldet haben, sie schilderte dieses Schreckliche – Isolation, Langeweile, schrumpfende Einkünfte, unfähige Experten und tropfende Wasserhähne – mit der epischen Geduld und Genauigkeit eines russischen oder französischen Großschriftstellers aus dem neunzehnten Jahrhundert. Flora bemühte sich eine Weile um aktives Zuhören, suchte die Atemholpausen, an denen sie sich vielleicht mit eigenen Erfahrungen oder neuen Themen einschalten konnte – vergeblich. Sie kam nicht dazwischen, die Stimme ihres leibhaftigen Gegenübers schraubte sich hoch und höher, die Beschreibungen blieben detailliert, griffen in alle Richtungen aus, nahmen kein Ende.

„Da habe ich den Ausknopf gesucht“, erzählte mir Flora, „es musste doch einen Knopf geben, wo man das Audio abschalten konnte, das ging doch sonst immer, aber ich suchte und drückte und drückte und fand ihn nicht und sie hörte nicht auf und da habe ich - “

… und in diesem Augenblick bohrte sich Floras Finger in den zweiten Knopf meiner neu erworbenen Strickjacke (leicht, flauschige Qualität, frühlingsgrün), bohrte und bohrte, bis mein Brustbein nachzugeben drohte und ich aufsprang und den Stuhl umwarf und das kleine Café an der Alster, diese warme Hülle aus Käsekuchen, Plüsch und Geplauder, in großer Verwirrung verließ.

 

Als es vorbei war 1 - 4
kann man bei www.fixpoetry.com nachlesen
oder bei susanne-neuffer.de

Nicht vergessen: am 29.6. um 19h30 im Literaturzentrum in Hamburg: Vorstellung unseres Blogs mit Lesung live!
Unsere dritte textX3-Ausgabe ist in Arbeit … wir melden uns!