Marita Lamparter
Auf dem Biomarkt
Die Herbstsonne scheint auf den kleinen Marktplatz. Vor einiger Zeit wurden die alten Platanen gefällt und die Sonne stellt die Stümpfe bloß.
Clarissa ist spät dran, sie ist fast immer spät dran: Vor dem Gemüsestand steht schon eine Schlange. Eine junge Frau schiebt den Kinderwagen so energisch zur Seite, dass sie damit Clarissa über die Füße fährt. Sie entschuldigt sich nicht, hier haben junge Mütter mit Kinderwagen immer grünes Licht und Vorfahrt. Ottenser Gereiztheit liegt in der Luft. Vielleicht geht es am Backstand schneller. Vor ihr steht eine junge Frau mit ihrem kleinen Jungen. Er ist vielleicht fünf oder sechs Jahre alt und guckt freundlich.
„Hast du schon ein Brötchen ausgesucht, Ben?“, fragt seine Mutter.
Ben schüttelt den Kopf.
Die Verkäuferin mit der adretten gelben Schürze fragt geduldig:
„Wie viel werden es denn? Wegen der Tüte.“ Sie greift nach einer weißen Papiertüte.
„Also, ich nehm ein Kürbiskernbrötchen, ein Haferbrötchen“, die junge Mutter überlegt.
Ben verzieht keine Miene.
„Werden es noch mehr?“, fragt die Verkäuferin.
„Ja, mal sehen, vielleicht so vier bis fünf. Das heißt, heute Nachmittag kommen ja noch Lilli und Klara, doch eher so sechs bis sieben, freust du dich schon auf Lilli, Ben?“
„Ich wollte mich mit Leo verabreden“, mault Ben
„Leo ist bei seiner Oma, Ben.“ Die junge Mutter spricht betont ruhig, pädagogisch. Sie möchte dem Kind alles in Ruhe erklären.
„Du magst doch so gern Weizenbrötchen mit Sesam, nein? Doch, die magst du so gern. Geben Sie doch bitte drei Weizensesambrötchen.“
Die Verkäuferin gibt die aktuelle Brötchentütenbestandsmeldung: „Jetzt sind es fünf Brötchen. Überlegen Sie in Ruhe. Ich bedien schon mal die Dame mit dem Vollkornbrot.“
Endlich geht es weiter mit der jungen Frau:
„Ach nein, nur zwei Weizensesam, zwei Haferbrötchen, zwei Kürbis und ein Vollkorn, komm Ben, wir müssen ja noch zum Gemüsestand.“
„Vollkorn mag ich“, sagt Ben.
„Ben, wir essen jeden Tag leckeres Vollkornbrot.“ Sie schaut strahlend um sich.
„Ich will nicht mit Lilli spielen“, sagt Ben.
„Ach, wissen Sie was“, sagt die junge Frau, „lassen Sie das Vollkorn weg, Ben ist so eigen heute.“
„Das Vollkorn jetzt wieder weg?“ Jetzt schwingt doch ein gereizter Unterton mit.
„Ich mag am liebsten Vollkorn“, sagt Ben. Die junge Mutter beugt sich zu ihrem Kind. Sie spricht sehr, sehr ernst: „Ben, entscheide dich: Hafervollkorn oder Roggen. Ach", und zur Verkäuferin gewandt, "geben Sie einfach zwei Schrippen für alle Fälle dazu.“
„Schrippen gibt’s auch in der Kita“, sagt Ben.
„In der Kita?“ Die Mutter ist entsetzt. „Beim letzten Elternabend haben wir doch beschlossen, dass es nur Vollkornbrötchen gibt.“ Sie stöhnt empört.
„Manchmal mit Schokokrem“, sagt Ben.
Clarissa wendet sich ab und steuert entnervt das kleine Café an. Markt in Ottensen ohne Milchkaffee ist wie Europa ohne Euro oder wie Habeck mit Krawatte. Kaum steht der Milchkaffee vor ihr, hört sie eine bekannte Stimme:
„Also für mich einen Milchkaffee und für Ben, also Ben, sag jetzt der Frau ganz deutlich, was du möchtest.“
Ben spielt.
„Ben, also für Ben eine Bionade, eine rote.“ Jetzt ist die Mutter entschieden, hat die Rechnung aber nicht mit Ben gemacht:
„Ich möchte heute lieber eine gelbe Bionade.“
„Ben, die hast du letztes Mal halb stehen gelassen. Die hat dir nicht geschmeckt.“
„Doch, hat sie wohl.“
Die Mutter versucht ihren Sohn zu ignorieren:
„Und einen Apfelkuchen. Halt, ist der heute mit Zimt? Oder mit Nüssen? Manchmal sind ja auch Nüsse drin, wenn es gar nicht drauf steht.“ Sie schüttelt verzweifelt ihre langen Haare.
„Ich muss die Chefin fragen“, sagt die Bedienung. Nach einer Weile kommt sie wieder und sagt mit Amtsverlautbarungstimme: „Wir können Spuren von Nüssen nicht ausschließen“. Kurz darauf wieder gewohnt locker Ottensen: „Nehmt doch die leckeren Schokomuffins, ganz frisch.“
„Ich bleib doch beim dem Apfelkuchen mit Sahne, der sieht ja so köstlich aus mit den Streuseln. Sag mal Ben, was isst du eigentlich die ganze Zeit?“
„Ach, entschuldige“, sagt die andere Mutter am Tisch. „Anton hat Ben von seinen Keksen abgegeben. Süß nicht? Er lernt gerade mit Freude zu teilen“. Sie lächelt stolz.
„Ben, du fragst mich vorher, wenn du was isst. Ben hat nämlich eine Lebensmittelallergie“, wendet sie sich entschuldigend an die andere Frau.
„Auf was denn?“
„Ach, kann ich dir gar nicht alles aufzählen. Praktisch auf alles.“
„Du bist ja mutig, dass du mit deinem Kind überhaupt ins Café gehst.“
Clarissa hastet nach draußen, ihr Ottensen hat sich in den letzten Jahren wirklich sehr verändert.
Im Vorbeigehen bemerkt sie noch, wie die Kinder Schokokekse essen. Aus dem Rucksack von Antons Mutter. Die Mütter unterhalten sich dem Anschein nach über Allergien.