Die eine rauscht rein, die andere träumt im Morgengrau:
Der Mythos vom ersten Satz
Renate Langgemach: Bei mir ist es so: Zuerst ergibt sich ein Thema. Das umkreise ich mit Notizen, Lektüre, ersten Passagen. Damit vergeht beim Roman mindestens ein halbes Jahr, bei Kurzgeschichten ist’s naturgemäß kürzer!
Marita Lamparter: Ich fange auch mit einer Notiz an, einem Einfall. Inzwischen weiß ich, das ist Warmschreiben, das streiche ich später.
R.L.: Eines Tages, oft zwischen Aufwachen und Aufstehen, taucht ein Anfangssatz auf – jetzt muss ich an Mayröcker denken, auch ihre magischen Notate beginnen im Morgengrau.
M.L.: Bei dir im Traum fast, bei mir fängt es im Warmschreiben an. Etwas greift: Der Satz bleibt stehen. Das ist bei mir der Anfang.
R.L.: Ich gerate tatsächlich über den Anfangssatz in den Schreibprozess. Mag sein, dass er noch einmal verworfen wird. Der endgültige erste Satz aber, der zugleich den Tonfall des Textes, des Protagonisten oder der Protagonistin trifft, formt sich schnell. Damit ist auch meine Stilebene ausgelotet.
M.L.: Ich schreibe immer gleich los. Um das Thema zu finden und zu halten.
R.L.: Du rauschst sozusagen in den Text?! Das geht bei mir nicht. Ich hänge am ersten Satz, er gehört fest zum Beginn meiner Textarbeit, ist für mich schwer wegzudenken.
Die Textanfänge meiner Romane kenne ich auswendig.
M.L.: Im Anfang soll ja schon alles enthalten sein, das ganze Drama, das Ende der Geschichte.
R.L.: Klar, es geht ja darum, den Leser in den Text hinein zu ziehen, ihm gleich zu Beginn mit etwas von dem zu locken, was auf ihn zukommt: eine Stimmung, das Problemfeld, die Erzählhaltung.
M.L. Aber hast du das sofort mit im Kopf am Anfang des Schreibens?
R.L.: Den eingebauten Takt der Geschichte, kritisch, schönfein oder brutal, bedenke ich bei meinen Anfängen nicht. Meist aber hat der Beginn die richtigen Worte für mich gewählt.
M.L.: Wie fängt denn dein Roman „Geh du nach Süden“ an?
R.L.: Johan Jakob war nicht nach Paris gekommen, um in das Alter einer Stadt zu tauchen, in Hochmut und Leid ihrer schwindenden Kräfte, sich ihren Namen umzulegen wie einen magischen Mantel, von den Krumen berühmter Bäcker zu picken und Kleider zu tragen wie Kuckucksflügel – er war gekommen, um fremd zu sein. Hier war er fremd …
M.L.: Es wird klar: Paris ist dran und nicht nur vor der Vorderseite. Einsamkeit ist dran. Ein Neuanfang ist denkbar, die Stilebene spürbar!
Beim Lesen von Olga Tokarczuks „Letzte Geschichten“ fand ich den Anfang richtig gewaltig: „Auf den kleinen Seitenstraßen sieht man im Winter nicht die weißen Linien.“ Ein Satz - aber der Unfall, das Suchen, das Ungewisse, auch das Gespenstische - es ist schon da.
R.L.: Was so ein Satz transportieren kann! Hast du ein Beispiel von deinen Anfangssätzen?
M.L.: Meine Dorfgeschichten fangen meist unmittelbar an, das passt zu Dorf und Kindheit: „Sie kommen, sie kommen“, rufen Sylvias Brüder. Es dreht sich um den Besuch aus Amerika und um die Aufregung der Kinder.
Kann es sein, geht mir aber auch durch den Kopf, dass wir dem Mythos erster Satz erliegen. Vielleicht ist ja der erste Satz der letzte Satz. Also ein Kunstgriff, ein spätes Gestaltungselement?
Bei meiner neuen Kurzgeschichte über einen Kanal frage ich mich, ob ich den Anfang verschieben soll, mit der Beschreibung des Wassers beginnen:
Anfang 1 „Das Schleusenhäuschen. Es war ein kleines eingeschossiges Haus aus roten Backsteinen …“
Anfang 2 „Die Sonne brannte auf den Kanal, so dass das Wasser wie ein silbernes Band zwischen den Bäumen hindurch schien. Die Weiden neben dem Weg waren scharf gezeichnet …“
Macht doch einen Unterschied, oder ?