Wir sind drei Autorinnen:
© Carmen Oberst
Marita Lamparter schaut sich die Menschen genau an. Sie erzählt davon in Dorfgeschichten aus Westfalen und Stadtgeschichten aus Ottensen.
Renate Langgemach kann in ihren Romanen einen Hang zu in Schieflage geratenen Verhältnissen nicht verbergen.
Susanne Neuffer erzählt von Leuten, die sich und andere gern täuschen und meist unruhig unterwegs sind.
Es sollte natürlich eine ernsthaft durchdachte, strukturierte 12. Blogausgabe werden und wurde stattdessen (wegen früh eingetretener Hitze) eine Schüssel mit ziemlich buntem Sommersalat:
Marita Lamparter war literarisch auf Spurensuche in Österreich unterwegs und hat uns ein paar vielsagende, aber wortarme Postkarten geschickt. Dafür mehr Text von ihr im Clarissa-Auszug, der ihre eigentliche Sehnsucht nach Dänemark ahnen lässt.
Susanne Neuffer, hamburgtreu, wenn sie nicht gerade im hohen Norden herumwandert, hat im Baumarkt etwas gefunden, das irgendwie zu Maritas Postkarten passt.
Renate Langgemach schlendert ärmellos durch eine französische Landschaft, man kann es ihr nicht verdenken.
Was war? Was kommt?
Frisches Blätterwerk hieß unsere Lesung im März in Kapelle 6 (Ohlsdorfer Friedhof), zusammen mit Gudrun Hammer. Wolfgang Matysik am Akkordeon bewahrte die Zuhörerinnen und Zuhörer davor, ganz und gar in den Texten zu versinken.
In die neue Lesesaison starten wir mit einem Programmangebot „Täuschungen – Prosa und Lyrik über die verschiedenen Möglichkeiten, sich selbst und anderen etwas vorzumachen“ - Termine folgen.
Marita Lamparter
Sehnsucht
Clarissa sehnte sich nach Dänemark, wie sie im Brecht Haus vom Schreibtisch Brechts auf den stürmischen Sund schaute, so weit weg von der Welt, keine Zeitungen, kein Fernsehen und die dänischen Flaggen flatterten als schmale Streifen über den Stegen. Sie hatte sich damals nach Peter gesehnt und ihre Examensarbeit über Bertolt Brecht geschrieben, damals, als es so nötig war, endlich über die Frauen an seiner Seite zu schreiben und ihren Anteil am Werk des großen Dichters. Die Wut und den Elan den sie damals hatte, sie wollten es den Professoren zeigen, heute langweilten sie die Genderthemen in den Zeitungen und im Hochschulbereich unendlich. Sie waren wichtig, aber das Klein-Klein war einfach nur langweilig. Clarissa fühlte sich ein wenig schuldig bei diesen Gedanken. Sie sehnte sich nach Dänemark der Stille und Friedlichkeit wegen. Der Ruhe unterm Strohdach.
Eigentlich sollte ich dieses Jahr mein Gartenfest ausfallen lassen, dachte sie. Es ist zu früh, das Trauerjahr ist noch nicht vorbei. Mutters Tod hatte sie viel mehr mitgenommen, als sie sich hatte jemals vorstellen können. Und das Testament erst. Sie sehnte sich nach dem dänischen Himmel, der so klar war und sie ein ungerechtes Testament vergessen machen könnte. Obwohl sie hatte ja Geld nicht bitter nötig, sie hatte es auch so geschafft, und genau so hatten es auch ihre drei Geschwister ihr vorgehalten. Warum sie sich denn aufrege? Sie sei weggegangen und damit habe sie keine Ansprüche mehr. Clarissa fühlte sich nur weggestoßen. Warum verstehen mich meine eigenen Schwestern und mein Bruder nicht? Aber so war es wohl. Die dänischen weiß-roten Bänder, die Ruhe und Sicherheit vor der Familie boten. Soweit würden sie ihr nicht folgen, also war sie es doch, die Kontakt abgebrochen hatte. Hatten die Geschwister doch recht?
Aber gefahren ist sie eben doch nach Österreich.
Hier sind die Postkarten, die sie uns geschickt hat:
Daraufhin hatten wir ein paar Tage im Juli alles andere
vernachlässigt und "Klagenfurt" geguckt.
Susanne Neuffer
Am Tag danach (Eine Insiderstory)
Es war im Baumarkt. Wo sonst. Am Montag, nachdem der zweite Preis in Klagenfurt an einen Baumarktkunden gegangen war, brauchte ich Schnellbeton und ein bisschen Farbe. Den Markt betrat ich mit einem gewissen Erschauern. Wussten sie? Sie wussten es, am Eingang hing das Bild des Preisträgers, notdürftig vergrößert, ohne Namen. Oder war er es doch nicht, nur der Leihhandwerker im karierten Hemd, der zu jeder von uns nach Hause kommen und alles richten würde?
Es herrschte eine gewisse gehobene Heiterkeit, einige benahmen sich, als würden sie gleich die Schlappen ausziehen, weil sie auf heiligem Boden standen. Andere suchten still und fokussiert nach der Schraube Größe m6 oder einem passenden Sanitärschlauch. An der Kasse vor mir wartete eine, die nun garantiert vom Fach war, von unserem Fach, meine ich. Leinernes Outfit, leicht verknittert, etwas blass, eine schon leicht graue Haarsträhne fiel ihr so lässig in die Stirn, dass ich sie zu erkennen glaubte. Eine von denen, die sich hinter dem Mikro bei jedem zweiten Halbsatz die Strähne so aus der Stirn streichen, dass der jeweilige Halbsatz noch bedeutsamer erscheint. Wo hatte ich sie schon mal gesehen, gehört? Sie bezahlte zwei Töpfe mit kleinblühenden Topfpflanzen, was ich nicht so aufregend fand, sie bezahlte zerstreut mit Karte, was eine Weile dauerte, dabei fiel ihr ein Zettel aus dem Geldbeutel. Sie bemerkte es nicht. Mein Reflex funktionierte: Ich hob ihn auf, ich gab ihn ihr nicht, steckte ihn ein. Sie lächelte die Kassiererin melancholisch an, nahm die Töpfe (es fielen auch noch ein paar Blüten ab und wehten hinter ihr her) und ging.
Und hier ist der Text, der mir zugefallen ist, den ich abgeschrieben habe und ohne Unrechtsbewusstsein hier wiedergebe:
Ich sitze vor dem Haus
ich sitze auf den Stufen vor dem Haus
ich sitze vor dem Haus und warte
und ich warte auf die Schnecken
ich warte auf die Schnecken
die meine Blumen fressen werden
meine Blumen werden sie fressen wie jedes Jahr
und ich lese
was Colin Outbreaker über Blumen schreibt
wie sie in den Tag wachsen
bevor sie gefressen werden
bevor der Schleim der Schnecken sich auf sie legt
und ich halte die Schere
und ich halte die Schere bereit
um die erste der Schnecken
zu zerteilen
und ich denke
an Colin Outbreaker
und was er wohl dächte
wenn er mich hier sähe mit der Schere in der Hand
Was ist das? Ein Gruß aus der Gartenabteilung? An die ernsthafte Welt der Bohrhämmer, Ringmaulschlüssel und Gehrungssägen? Falls sie das hier liest, kann sie sich ja melden, sonst geht es in den großen Schatz der anonymen Volkspoesie ein.
Ich wüsste nur gern, wer Colin Outbreaker ist.
Renate ist zu zurück aus Frankreich, inzwischen kann sie auch hier die Ärmel hochkrempeln vor Hitze.
Renate Langgemach
ärmellos habe ich den tag begonnen
wenn die ziegen auf den straßen
der milan
der über uns seine kreise zieht
die frau, die sagt
dass wir zu steigen hätten
nur zu steigen
wenn das alte und das neue …
was ist es denn
was ich dir zeige
steinziegel auf den dächern
den tisch über dem fluss
die burgherren rechts und links
den regen
der wie lanzen vom himmel fällt
die felshöhlen
in denen vor tausenden jahren
menschen
ihren lebensraum fanden
ihre hände in den stein drückten
ihren pferden
punkte auf den leib setzten
sich von büffelmüttern weihen ließen
vogel
flieg nicht davon
was ist es denn
was ich dir zeige
das licht, das aus den wolken bricht
unser nachtzimmer aufhellt
und das glas der lampe sprengt
die erde, die uns stürzen lässt
das wasser, das die blätter schwärzt
und das korn
was ist es denn,
was ich dir zeige
boucher et boulanger
presse, timbres et tabac
unseren ort
wo die sonne
sich im abhang spiegelt
und man denkt
man könnt’ hier im alter leben
und die wege dahin
und die wege zum glück
drei schritte nach vorn
und zwei zurück
ärmellos habe ich den tag begonnen
dann künden die hunde vom gewitter
was ist es denn,
was ich dir zeige
der geruch
von müdem gras
das glitzern
in einem kindersaum
pièrre holt seine gitarre
monsieur roques
sein akkordeon
girlanden hängen über dem dorf
mohnblüten
wie eintagsfliegen
in regelloser sonne
insekten
bäumen sich auf
eine katze schläft sich ins leben
und wir beginnen zu tanzen
Das sommerliche Gästezimmer war in Anna Hölschers Salon ausgewandert. Dort hingen (und hängen noch) ausgewählte Bilder und Objekte von Heinz Jahn. Um diese Bilder herum waren bei einem Workshop, den Anna Hölscher anleitete, Texte entstanden. Hier sind einige davon:
Song
Heitere Stäbe
Blitze der Erinnerung
Kreuz und quer
ins Geflecht verwoben
zu einem Teppich
oder einem wilden Zaun.
Sie halten zusammen,
der Grüne reißt aus
zum Take-off.
Ein Roter landet gerade.
Die Grünen ruhen sich aus
und schwatzen miteinander.
Ein Blauer weiß noch nicht,
findet seinen schrägen
Platz.
„We are the Champions“
ruft der Grüne in der Mitte!
Anna Hölscher
Ich habe mich in den Punkt verliebt - in die Frage, wie ich zum Punkt komme, auf den Punkt, den Punkt der Farbe, des Wollens, den Punkt, der ausufert, in das Zentrum führt - das Zentrum, sagt man, ist ein einfacher Ort - doch ziehst du deine Kleider aus, wäschst deine Hände, beginnst in deiner Blöße das Zentrum zu suchen, wirst du sehen, dass es seltsam verschlungene Wege braucht, dass kein Weg, kein Rot, kein Blau, kein Farbton dich in das Zentrum führt außer du würdest wagen dich wie ein Kind mit deiner Schnur zu bewegen, deinem Springseil, deinem Kreisel, der in die Farben des Wunderlichen und Wunderbaren getaucht ist - siehst du sie, wenn sie wie ein Kreisel ihre Muster in sich verschlingen und eins werden, ist das der Punkt?
Vor einigen Tagen habe ich die Hände der Menschen betrachtet, die vor mir im Zug saßen, wie sie ihr Handy aus der Hosentasche gezogen haben, sich in die leuchtende Fläche vertieft, das Spiel von Buchstaben und Zeichen hinter einer Scheibe aus weiß ich welchem durchsichtigen Stoff … die Hände haben mich interessiert, sie haben eine vorgeschriebene Haltung, aus der sich ein Finger auf die Scheibe löst - ist das der Punkt?
Renate Langgemach
Punktum! 24 Kreise - aus Holz womöglich - in geordneten Viererreihen. Und alle diese Kreise sind in unterschiedlichen Farben bemalt, versehen mit einer krakeligen andersfarbigen Umrandung.
Es leuchtet! Und er hat es auf den Punkt gebracht, der Künstler:
DAS LEUCHTEN in der Welt entfaltet sich auf den kolorierten Oberflächen. Farbe konzentriert auf 2 cm Durchmesser.
Alle Punkte zusammen spielen und feiern die Farbe und das Licht; sind voneinander getrennt und bilden doch eine Einheit.
Frauke Morlot
Chaos. Das schönste Chaos, das ich mir vorstellen kann. Oder doch eher ein Gewirr? Da kommt wer weiß was zusammen. Fäden, die sich verirren, verwirren. Sortieren zwecklos. Zusammen sind sie, bunt ist es. Jedes einzelne Fädchen, oder nein, sie sind nicht einzeln, es ist ein langer Faden, der sich verwickelt hat, und nach jeder Umdrehung, jeder Umkehr eine neue (andere) leuchtende Farbe übernommen hat. Eine Farbwolke, schwebend, über Punkten. Sie könnte weiterziehen, sich drehen, wenden, jederzeit ein neues Bild gestalten. Nur die Punkte bleiben. Gedankenwolken.
Was dachte der Künstler, als er den Faden färbte, in die Farbe tauchte oder mit dem Pinsel die Farbe auftrug? Ist er seinen Launen, seinen Einfällen gefolgt oder hat er intuitiv und - ganz in sich ruhend - das Gespinst sich selbst überlassen?
Frigga Horstmann
Termine:
Dömitzer Leseorte
Renate Langgemach
liest aus ihrem unveröffentlichten Roman
Septembermeer
ein paar Gedanken über das Älterwerden
10.8.2024
Infos: Dömitzer Leseorte
16 Uhr
À travers Champs - Querfeldein
Ein Gespräch mit Heinz Jahn
Renate Langgemach stellt ihren gerade
erschienenen Interviewband vor und liest daraus.
18.8.2024
Annas Salon
Einlass mit Kaffee und Kuchen um 16.30 Uhr
Beginn um 18 Uhr Bleickenallee 16, 22763 Hamburg
anmelden: mail@anna-hoelscher.de