mit einem bündel gras
und einer handvoll erde
einen mondbrief schreiben
wer kann das schon

fingerhut
und wilde kirschen
in einen umschlag tun
und wissen
was er dem ungesehenen
opfert

 

mein herbst ist vollkommen
regenreich
lehmdurchtränkt
sanft

man sagte mir
im herbst gibt es jäger
zeitjäger
lebensjäger
wie konnte ich euch
vergessen
wo doch euer auftrag stimmt

 

bist du wieder da
vogel, der in mein leben pickt
ohne zu fragen
windrisse findet
kahle wände
brechendes licht

 

neozoen
kommen von weit
höhlen unsere deiche
fressen sich die hucke voll
gebären auf unseren böden
jäger sind hinter ihnen her
doch sie bleiben
bisam
waschbär

königskinder

 

Lyrik:
Renate Langgemach

Er wäre vielleicht ohne Pandemie und unsere schöpferische
Höhlenexistenz nicht entstanden, jetzt ist er da.

Für uns, damit wir am Schreiben und Austauschen dranbleiben,
unsere kritische und unterhaltsame Zusammenarbeit fortsetzen,
die wir für unsere Arbeit gewohnt sind und brauchen.

Für euch, für Sie, weil wir unsere gemeinsamen Lesungen,
die Zuhörerinnen und Zuhörer, Leserinnen und Leser vermissen,
das Lampenfieber, den Widerhall, die Nachfragen, das Gefühl,
verstanden oder grandios missverstanden zu werden.

Wir sind drei Autorinnen, manchmal vier:

Marita Lamparter schaut sich die
Menschen genau an. Sie erzählt davon
in Dorfgeschichten aus Westfalen
und Stadtgeschichten aus Ottensen.

 

Renate Langgemach kann in ihren
Romanen einen Hang zu in Schieflage
geratenen Verhältnissen nicht
verbergen.

 

Susanne Neuffer erzählt von Leuten,
die sich und andere gern täuschen und
meist unruhig unterwegs sind.

 

Diesmal noch mit Masken und teils unsichtbar.
Demnächst demaskiert und in gewohnter Schärfe!

Gastautorin ist Gudrun Hammer. Sie schreibt Romane
und Kurzgeschichten und versteht sich als norddeutsche Realistin.

In unserem ersten Blog textX3 wollen wir das Virus, das alles
durcheinander bringt, nicht aussparen. Und nicht die Frage, ob es
nach Corona eine Literatur ohne Corona geben kann.
Susanne Neuffers Text macht den Anfang: Als es vorbei war 5.

Und weil es um Neubeginn auf allen Ebenen geht,
führen Marita Lamparter und Renate Langgemach
ein Gespräch über Anfänge - hier ist gemeint, was wir immer wieder finden
und wagen müssen: Textanfänge, den vielbeschworenen ersten Satz.

Statt einer Lesung, für die wir erst noch die Stühle zusammen suchen
müssten, gibt es am Schluss zwei Kostproben aus unserem
Kurzgeschichten-Fundus.

Viel Vergnügen beim Lesen unserer ersten Ausgabe von textX3!

Wir melden uns, wenn es weiter geht!
Das nächste Mal mit Fragen an Susanne Neuffer
und mit Stadtteilgeschichten.

 


Susanne Neuffer
Als es vorbei war 5

Die Veranstaltung war schon lange geplant worden. Monatelang? Oder waren es Jahre gewesen? In der letzten Zeit war es mühsamer geworden, den Überblick zu behalten, deshalb hatten sich viele ins Tagebuchschreiben gerettet, verzeichneten ihre wenigen Einkäufe und Begegnungen mit großer Sorgfalt, dazu ihre Gefühlsschwankungen, Bitterkeiten und trotzig-schnurrigen Anekdoten, und stellten alles ins Netz. Wo es niemand lesen wollte, weil alle in etwa dasselbe erlebt hatten, abgesehen von denen, die wirklich Schlimmes erlebt hatten. Aber die schwiegen.
Nun war also die Bühne aufgebaut, auf der großen Terrasse der Akademie, wo man sonst nur den Pausenwein getrunken hatte, jetzt aber gesungen und gelesen werden sollte. Es war Spätsommer, (aber welcher?), die Gäste bewegten sich unruhig drinnen und draußen, sie waren schon von Anfang an begeistert, benahmen sich wie gerettete Schiffbrüchige, übermütig, laut.

Als ich an der Reihe war, las ich drei Geschichten, die mir schon lange am Herzen lagen, und wartete auf den Beifall. Er kam nicht. Ich nickte bestätigend, dankte fürs Zuhören. Wieder nichts. Das war ungewöhnlich, Auch schwache Texte bekommen üblicherweise eine Art Höflichkeitsapplaus. Die Moderatorin reagierte schnell, sie kam auf die Bühne. Warum ich nicht auf die Lage eingegangen sei, fragte sie. Man sei doch nun am Ende des Tunnels angekommen und erwarte von der Kunst, das hinter uns Liegende zu verarbeiten. Ob meine Entscheidung, Geschichten ohne Bezug auf die Ereignisse beziehungsweise Nichtereignisse dieser Phase vorzulesen, eine bewusste gewesen sei. Ich dachte nach, weil ich keine Antwort wusste, und nahm die Lesebrille ab, so dass ich das Publikum genauer sehen konnte, das von allen Seiten näher gerückt war. Etwas stimmte nicht mit den Leuten. Jetzt sah ich es: Ihre nun wieder nackten Gesichter waren in der oberen Hälfte kräftig gebräunt, windgegerbt, in der unteren kalkweiß, wie aus Papier. Gleich würden sie beginnen mich einzukreisen und schreiend eine Hälfte abzureißen. Aber welche?

Die Kunst, sagte ich hastig, ist immer zu früh oder zu spät dran, raffte meine Papiere und Röcke, stolperte von der Bühne, floh aus dem Saal, wo sich langsam ein schwächlicher Applaus erhob.

Als es vorbei war 1 - 4
kann man bei www.fixpoetry.com nachlesen
oder bei susanne-neuffer.de


Die eine rauscht rein, die andere träumt im Morgengrau:
Der Mythos vom ersten Satz

Renate Langgemach: Bei mir ist es so: Zuerst ergibt sich ein Thema. Das umkreise ich mit Notizen, Lektüre, ersten Passagen. Damit vergeht beim Roman mindestens ein halbes Jahr, bei Kurzgeschichten ist’s naturgemäß kürzer!

Marita Lamparter: Ich fange auch mit einer Notiz an, einem Einfall. Inzwischen weiß ich, das ist Warmschreiben, das streiche ich später.

R.L.: Eines Tages, oft zwischen Aufwachen und Aufstehen, taucht ein Anfangssatz auf – jetzt muss ich an Mayröcker denken, auch ihre magischen Notate beginnen im Morgengrau.

M.L.: Bei dir im Traum fast, bei mir fängt es im Warmschreiben an. Etwas greift: Der Satz bleibt stehen. Das ist bei mir der Anfang.

R.L.: Ich gerate tatsächlich über den Anfangssatz in den Schreibprozess. Mag sein, dass er noch einmal verworfen wird. Der endgültige erste Satz aber, der zugleich den Tonfall des Textes, des Protagonisten oder der Protagonistin trifft, formt sich schnell. Damit ist auch meine Stilebene ausgelotet.

M.L.: Ich schreibe immer gleich los. Um das Thema zu finden und zu halten.

R.L.: Du rauschst sozusagen in den Text?! Das geht bei mir nicht. Ich hänge am ersten Satz, er gehört fest zum Beginn meiner Textarbeit, ist für mich schwer wegzudenken.
Die Textanfänge meiner Romane kenne ich auswendig.

M.L.: Im Anfang soll ja schon alles enthalten sein, das ganze Drama, das Ende der Geschichte.

R.L.: Klar, es geht ja darum, den Leser in den Text hinein zu ziehen, ihm gleich zu Beginn mit etwas von dem zu locken, was auf ihn zukommt: eine Stimmung, das Problemfeld, die Erzählhaltung.

M.L. Aber hast du das sofort mit im Kopf am Anfang des Schreibens?

R.L.: Den eingebauten Takt der Geschichte, kritisch, schönfein oder brutal, bedenke ich bei meinen Anfängen nicht. Meist aber hat der Beginn die richtigen Worte für mich gewählt.

M.L.: Wie fängt denn dein Roman „Geh du nach Süden“ an?

R.L.: Johan Jakob war nicht nach Paris gekommen, um in das Alter einer Stadt zu tauchen, in Hochmut und Leid ihrer schwindenden Kräfte, sich ihren Namen umzulegen wie einen magischen Mantel, von den Krumen berühmter Bäcker zu picken und Kleider zu tragen wie Kuckucksflügel – er war gekommen, um fremd zu sein. Hier war er fremd …

M.L.: Es wird klar: Paris ist dran und nicht nur vor der Vorderseite. Einsamkeit ist dran. Ein Neuanfang ist denkbar, die Stilebene spürbar!
Beim Lesen von Olga Tokarczuks „Letzte Geschichten“ fand ich den Anfang richtig gewaltig: „Auf den kleinen Seitenstraßen sieht man im Winter nicht die weißen Linien.“ Ein Satz - aber der Unfall, das Suchen, das Ungewisse, auch das Gespenstische - es ist schon da.

R.L.: Was so ein Satz transportieren kann! Hast du ein Beispiel von deinen Anfangssätzen?

M.L.: Meine Dorfgeschichten fangen meist unmittelbar an, das passt zu Dorf und Kindheit: „Sie kommen, sie kommen“, rufen Sylvias Brüder. Es dreht sich um den Besuch aus Amerika und um die Aufregung der Kinder.
Kann es sein, geht mir aber auch durch den Kopf, dass wir dem Mythos erster Satz erliegen. Vielleicht ist ja der erste Satz der letzte Satz. Also ein Kunstgriff, ein spätes Gestaltungselement?

Bei meiner neuen Kurzgeschichte über einen Kanal frage ich mich, ob ich den Anfang verschieben soll, mit der Beschreibung des Wassers beginnen:
Anfang 1 „Das Schleusenhäuschen. Es war ein kleines eingeschossiges Haus aus roten Backsteinen …“
Anfang 2 „Die Sonne brannte auf den Kanal, so dass das Wasser wie ein silbernes Band zwischen den Bäumen hindurch schien. Die Weiden neben dem Weg waren scharf gezeichnet …“
Macht doch einen Unterschied, oder ?

Nach all den Überlegungen über das Anfangen hier nun zum Schluss unseres ersten  BLOGs textX3 zwei Kurzgeschichten mit
ihren speziellen Einstiegen zum Thema Wasser, das ja der Anfang von vielem ist, wie wir von den Marsexpeditionen wissen.


Marita Lamparter
hat sich für einen Anfang entschieden:

Welches Schiff kommt heute vorbei?

Das Schleusenhäuschen. Es war ein kleines eingeschossiges Haus aus roten Backsteinen mit einem fast quadratischen Grundriss.
Darin saß der Schleusenmeister, der mit seinen Hebeln die großen Schleusentore in Bewegung setzen konnte.
Obwohl das Schleusenhäuschen klein war, höchstens drei Menschen konnten sich gleichzeitig darin aufhalten, strahlte es dennoch Wichtigkeit und Bedeutung aus, denn es stand oberhalb der Schleuse, es konnte vom Wasser schon von weitem gesehen werden und bot den Überblick über Schleuse und Brücke. Die Schiffe kamen voll beladen aus dem Dortmunder Hafen, dem Ruhrgebiet, beladen mit Kohle. Für diese Transporte war der Kanal ja vor über 100 Jahren gebaut worden, vom Ruhrgebiet über den Kanal und die Ems bis nach Papenburg und bis zur Nordsee.
Binnenschiffer, das ist ein wichtiger Beruf, das lernen die Kinder im Kanaldorf in der Schule. Oft stehen sie auf der Brücke, verfolgen das Schleusen und gucken von oben auf die Schiffe.

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Renate Langgemach
liebäugelt mit dem Untergang:

Auf hoher See

Den Titel übrigens hat sie sich beim absurden Theater von
Slawomir Mrozek ausgeliehen.

Auch die Großen, Majestätischen, können wie eine Nussschale sinken, in die das Wasser einläuft, während man nach Backbord strauchelt um es auszuschöpfen. Durch diese Bewegung schluckt das Boot noch einmal kräftig und taumelt in die Tiefe. Wenn man Glück hat, erwischt man ein Ruder oder die mit Kork ausgeschlagene Vorratskiste und hält sich über Wasser, bis man gerettet ist.
Als die Meldung kam, hatte der Kapitän die Eisnadel schon gesichtet. Sie schwankte über der Wasseroberfläche, störendes Objekt in voller Fahrt voraus. Es war Nachmittag, eine Ansammlung von Abenteurern mit Anspruch auf die Geborgenheit einer Wiege lagen an Deck, ihre Füße in Tücher gewickelt. Die Nadel am Horizont bedeutete, dass er vor die Öffentlichkeit treten und über Schwachstellen einer Stahlkonstruktion beim Aufprall auf Eisriesen hinwegtäuschen musste. Auf Luxuslinern erwartet man den Kapitän persönlich, sein Anblick erhöht Laune und Lebensgefühl, Erstkontakt über Mikrofon, legte er sich zurecht, dann Uniform und unter die Menschen, falls noch erforderlich.

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